Das Liquid Penguin Ensemble, dessen Projekte zwischen Musiktheater, Hörspiel, Klangkunst, Performance und Installation changieren, wurde von Katharina Bihler und Stefan Scheib gegründet. Katharina Bihler erzählt über das für den SR produzierte Hörspiel „Cyfre".
Frau Bihler, „Cyfre" ist ein alter französischer Name für die Zahl Null, bedeutet Himmel, Raum und Leere, Kreis und Punkt. Schön und gut, aber: Was bedeutet Liquid Penguin Ensemble?
(lacht) Ja, genau, die alte Frage: Die flüssigen Pinguine. Ein Ensemble steht immer vor dem Problem, sich nennen zu müssen. Wir haben uns entschlossen, uns so zu nennen, einfach weil es gut klingt. Es hat gut gepasst, weil wir schwerpunktmäßig ein akustisch basiertes Ensemble sein wollten. Es hat sich bewährt, weil: Wer einmal den Namen gehört hat, merkt ihn sich.
Zahlen und Zahlenwerte sind überall, aber nicht unbedingt für jedermann prickelnd. Wie ist das für Sie?
Ich habe ein gutes Verhältnis zu Zahlen. Bei mir hat es als Kind angefangen, heute würde ich das so beschreiben: Die Zahl Sechs ist eine Analogie. Wir waren vier Kinder und die Eltern, und meine Eltern kamen auch aus Familien mit vier Kindern. Ich habe also gedacht, es sei normal, dass eine Familie aus sechs besteht, und wenn sie noch nicht aus sechs besteht, dann ist sie noch nicht vollständig – irgendwann sind die auch sechs. Außerdem passt es so gut, weil sechs Eier in der Schachtel sind. Am Sonntag gab’s zum Frühstück Eier – und das geht auf. Der Würfel hat sechs Augen – das ist so logisch. Später im Matheleistungskurs hatte ich auch immer Spaß an der Abstraktion, die Zahlen erlauben, und an den Welten, in die man gezogen werden kann, wenn man sich mit ihnen beschäftigt – das löst in mir eine große Lust aus.
Der Zuhörer erhält zu Beginn ein Inhaltsverzeichnis zum Hörspiel. Welches der sieben Kapitel mögen Sie besonders?
Natürlich fasziniert mich die Null! Die Geschichte „Eulers Beerdigung" handelt davon, dass man des Mathematikers Eulers Kopf obduziert, und angeblich darin eine wirr durcheinanderschwappende Zahlensuppe gefunden hat. Eine Kollegin von Euler hält ihm ein Totengedenken – und fügt Pause an Pause. Dass die Pfeife rauchende Mathematikerin O. Pfeifenrauchkringel ausstößt, ist ein poetisches Bild für mich: Das Nichts dampft aus ihrer Pfeife.
Welche Rolle spielt für Sie die freie Assoziation als Kreativtechnik?
Tatsächlich eine große! Ich sammle Worte aus dem Umfeld, schreibe sie auf Zettelchen, lege mir sie aus und vergegenwärtige sie mir so. Bezüglich der Zahlen kann man feststellen, dass sie in vielen Wörtern und im Bezeichnen von Dingen vorkommen, die habe ich eben auch gesammelt, und gedacht: damit kann man auch zählen. Man kann eins, zwei, drei und so weiter zählen, oder Einback, Zwieback, Dreiklang, Viererkette, Fünfprozenthürde hochzählen, dieses Spiel habe ich – soweit ich es konnte – auch getrieben.
Auch der Zuhörer wird zur Assoziation angeregt. Einmal kamen mir Bilder von Escher – Treppen, die ins Unendliche führen – in den Sinn.
Ja. (lacht) Das ist sehr passend und im Sinne der Erfinder. Eine Melodie, die Stefan komponiert hat, heißt tatsächlich Escher-Melodie. Beim Schreiben und Ersinnen des „kleinen Räumchens in der Schädelkalotte" und der Figur X, die sich dort aufhält, haben mich Escher-Bilder inspiriert.
Schreiben Sie alleine und danach kommt die Instrumentierung durch Stefan Scheib hinzu?
Nein. Wir arbeiten parallel. Was wir erarbeiten, zeigen und spielen wir uns gegenseitig vor. Wir tauschen uns permanent aus.
Sie sind nicht nur künstlerisch, sondern auch privat ein Paar. Geht das immerzu harmonisch im Duett?
Ja. (lacht) Ich würde sagen zu 99 Prozent. Also gestritten wird hier schon, so ist es nicht, aber – ich glaube, ich spreche für uns beide – wir könnten es uns nicht besser vorstellen. Wenn es als Paar klappt, dann klappt es als Paar besser als in jeder anderen Konstellation. Wir empfinden es so, dass es sehr fruchtbar ist und sich deswegen auch alle schweren Zeiten, die in der Natur der Sache einer künstlerischen Produktion liegen, bewältigen lassen. Am Ende sollte es harmonisch sein, aber der Weg dahin kann mäandern.
Der Text verwendet unter anderem auch ein Zitat des englischen Barock-Komponisten Henry Purcell. Was wird da berechnet?
Von Purcell gibt es in der Oper „The Fairy-Queen" eine Arie, in der jemand rechnet, aber auf ganz andere Art, und singt: „Eine bezaubernde Nacht schenkt mehr Seligkeit als hundert glückliche Tage", „One charming night gives more delight/Than a hundred, than a hundred/A hundred lucky days".
Man hat versucht herauszufinden, ob Tiere zählen können. Es scheint, Sie haben sich mit den Ergebnissen befasst. Nach der Aufforderung, gleichzeitig auftreffende Regentropfen auf der Handfläche zu zählen, fällt der schöne Satz: „Die Handfläche zählt nicht besser als ein Rabe."
Ja, man kann es nicht anders sagen. Tatsächlich hat man bei Raben und anderen Vögeln festgestellt: Tiere haben schon eine Vorstellung davon, wie viel wie viel ist. Zum Raben haben wir eine Quelle vorgefunden und erzählen die Geschichte eines Raben, der sich zunächst nicht verwirren und veräppeln lässt, und erst, als man ihm fünf Menschen schickt, um ihn zu meucheln, gelingt das. Tatsächlich scheint die Zahl Fünf eine Grenze, wo man sich sogar streiten kann, ob das schon zählen oder nicht eher ein Erfassen ist. Ich habe auch selber probiert, die Handfläche in den Regen zu halten, um dann schnell zu sagen: Wie viele Tropfen waren das?
Der „r-Wert" wird einmal genannt, aber nicht erklärt. All die neuen Begriffe, Zahlenwerte samt Bedeutungen, von denen wir derzeit erfahren, spielen kaum eine Rolle in „Cyfre". Ein coronafreies Hörspiel?
Ja, fast. Corona kam uns beim Erfinden von „Cyfre" dazwischen, hat aber einige neue Wörter beschert, die in den Kreis gehören, auch den r-Wert, und auch die große Verwirrung, die angesichts vieler Kennwerte eintreten kann. Um wirklich zu verstehen, was wir an Zahlen, Werten, Verhältnissen und Proportion vor uns haben, müssen wir immer auch sehr viel rundherum wissen, um einschätzen zu können, was es für uns selber bedeutet. Durch Corona spüren wir das sehr deutlich.
„Einsteins Zunge. Aus dem Nachlass meines Bruders" von Christoph Buggert erhielt kürzlich den Deutschen Hörspielpreis der ARD. Das Hörspiel ist eine Produktion des Liquid Penguin Ensembles für den Saarländischen Rundfunk und den Mitteldeutschen Rundfunk. Sie haben Regie geführt, Stefan Scheib die Musik komponiert. Gratulation. Und: Wovon handelt dieses Hörspiel?
Ein Protagonist setzt sich auf die Spur seines verstorbenen Bruders und findet Dinge in dessen Nachlass, von denen er keine Ahnung hatte – und zwar Ideen und Gedanken. Wo bleiben die Gedanken, wenn man stirbt? Oder: Wie kann es sein, dass man bis zum Universumsende denken kann, ohne dort sein zu müssen? Das Spannungsfeld zwischen Materie und Geist wird ausgelotet. Eine Reise in den Kopf des Bruders oder auch vielleicht in den eigenen Kopf, um zu erfahren, was Leben, die Welt und den Menschen – abgesehen von seiner Materie – noch zusammenhält. Offenbar bleibt die Welt der Ideen, der nächste kann sie aufgreifen …