Der TTC Wiener Neustadt ist beim Final Four der Tischtennis-Champions-League die große Unbekannte. Die Österreicher gehören erstmals zum europäischen Elite-Quartett – nicht zuletzt dank eines Leihspielers und einer peinlichen Posse in Deutschland.
Die Teilnahme des TTC Wiener Neustadt am Final Four der Tischtennis-Champions-League gleicht einem Märchen. Vor erst sechs Jahren beinahe aus dem Nichts in Österreichs Bundesliga aufgestiegen, holten die Niederösterreicher (nicht Wiener!) seit 2021 in jeder Saison mindestens einen nationalen Titel. International erschien vor zwei Jahren der Einzug ins Finale des „kleinen Champions-League-Bruders“ Europe Cup geradezu folgerichtig – und die Qualifikation für Saarbrücken nun als ebenso logische Fortsetzung.
Absolutes Wechsel-Chaos um Jin Ueda
Bei näherer Betrachtung allerdings ist Wiener Neustadts erster Halbfinal-Auftritt in der europäischen Königsklasse eher kein Märchen, sondern die Geschichte einer Wechselposse. Im Mittelpunkt stehen dabei weniger die Nobodys aus der Alpenrepublik als vielmehr ihr (heutiger) Ex-Spieler Jin Ueda und der deutsche Bundesligist TSV Bad Königshofen.
In dem Lehrstück über die Bedeutung von Professionalität im Tischtennis sind die Rollen klar verteilt: Während Österreichs Meister in dem Chaos von Zuständigkeiten, Statuten und Regularien gewissermaßen zum lachenden Dritten avancierte, ernannten sich Bad Königshofens Macher selbst zu „Deppen der Nation“ – und so darf sich Ueda gerade beim Saisonhöhepunkt in der Saarlandhalle durchaus noch einmal besonders als tragischer Held fühlen.
Zunächst klang im Frühjahr 2023 alles tatsächlich nach einem Märchen. Für Bad Königshofen und Ueda – und an Wiener Neustadt dachte noch niemand. Denn durch Vermittlung seines japanischen Hauptsponsors konnte der Verein des früheren Saarbrücker Publikumslieblings Bastian Steger den früheren Top-30-Spieler aus Nippon nach Unterfranken locken.
Der TSV freute sich auch sehr: Schließlich wollte der Wunschspieler im Gegensatz zu so vielen anderen nicht nur zu seinen Einsätzen einfliegen, sondern leitete mit seiner Familie umgehend die Verlegung des gemeinsamen Lebensmittelpunktes in die bayerische Kleinstadt ein – und ließ natürlich vor allem Bad Königshofens Träume von der ersten Playoff-Teilnahme plötzlich durchaus realistisch erscheinen.
So zufrieden die Mienen schon im April vorigen Jahren bei Uedas Unterzeichnung sowohl des Arbeitsvertrages mit dem TSV als auch des Lizenzvertrages mit der Liga strahlten, so sehr entgleisten Bad Königshofens Vereinsvertretern nach Ablauf der Wechselfrist am 31. Mai die Gesichtszüge: Bei aller Vorbereitung und Planung des Transfers war der ebenfalls vorgeschriebene Wechselantrag nicht rechtzeitig an den für Bad Königshofen zuständigen Landesverband verschickt worden.
Da hatten alle den Salat. Erst mehr als einen Monat nach dem Malheur ging der Club an die Öffentlichkeit. Ausführlich entschuldigte sich der TSV für „einen folgenschweren Fehler durch verschiedene unglückliche Umstände“ bei Fans, Partnern sowie nicht zuletzt bei seinem Sponsor und den Uedas: „Für Japaner mit einer Nullfehler-Kultur ist unser Fauxpas schier unbegreiflich.“ Bad Königshofens Manager Andreas Albert flüchtete sich in Sarkasmus: „Ich bin jetzt berühmt – der Depp der Nation.“
Da war Wiener Neustadt aber schon ins Spiel gekommen. Um Ueda nicht endgültig zu verlieren, bemühten sich die TSV-Macher um eine Leihe des Asiaten bis zur vollständigen Erledigung aller Formalien in der Wintertransferperiode – und waren in Österreich erfolgreich.
Am Ende wohl nur Erfahrung zu gewinnen
Aufgrund international unterschiedlicher Vorgaben für Spielberechtigungen konnte Ueda in Niederösterreich nur für die Champions League gemeldet werden – was sich für Wiener Neustadt als regelrechter Booster erwies. Der Routinier brillierte in Qualifikation und Gruppenphase mit einer Gesamtbilanz von 9:4 Siegen und hatte entscheidenden Anteil daran, dass Wiener Neustadt alle sieben Begegnungen gewann – die Überraschung war perfekt. Dank Ueda erreichten die Underdogs als erster Verein aus Österreich seit dem früheren Champions-League-Sieger Weinviertel Niederösterreich (ehemals SVS Niederösterreich) vor neun Jahren wieder die Vorschlussrunde in Europas wichtigstem Vereinswettbewerb. „Dass ich in der Champions League spielen durfte, war eine besondere Herausforderung, und ich glaube, dass ich dem Verein helfen konnte“, resümierte der 32-Jährige bei seinem Abschied treffend.
Uedas „Rückkehr“ nach Bad Königshofen zum Jahreswechsel veränderte jedoch die Vorzeichen zu Lasten von Wiener Neustadt. Denn die Champions-League-Regeln verboten die „Nachrüstung“ mit einem ähnlich starken Ersatzmann für den früheren WM-Spieler.
Zwar gewann der österreichische Staatsmeister zu Jahresbeginn zum dritten Mal nacheinander den einheimischen Pokal, doch auf der nun ganz großen Champions-League-Bühne kann Wiener Neustadt oberhalb seines Limits nur eines gewinnen: Erfahrung. Im Halbfinale gegen das Top-50-Trio von Rekordgewinner Borussia Düsseldorf jedenfalls dürfte das ohne Österreicher antretende Team von Trainer Martin Doppler kaum über die Rolle eines Sparringspartners hinauskommen.
Der 32 Jahre alte Spitzenspieler Frane Kojic (Champions-League-Saisonbilanz: 6:3 Siege), für Kroatien Olympia-Starter 2021 in Tokio und vor Monatsfrist in Südkorea zum achten Mal bei einem WM-Turnier am Tisch, rangiert in der Weltrangliste um Position 270. Sein zwölf Jahre jüngerer Landsmann Ivor Ban (5:2) ist rund 80 weitere Plätze tiefer einzustufen. Dopplers Endrunden-Trio komplettiert der momentan international nicht gelistete Belarusse Aleksandr Khanin (1:0), der früher für den TTC Jülich und bis vor Jahresfrist für den TV Worms-Leiselheim in der 2. Bundesliga aufschlug.
Wie schon im bisherigen Champions-League-Saisonverlauf wollen die Österreicher gegen Düsseldorf erneut die Chance, die sie eigentlich nicht haben, nutzen. „Wir werden versuchen“, kommentierte der Club die Final-Four-Auslosung, „eine Überraschung abzuliefern“.
Und Jin Ueda? Wiener Neustadts Herbst-Held würde seinen alten Kollegen sicher allzu gerne noch einmal helfen, darf aber nur noch zuschauen – und hat mit Bad Königshofen gute Chancen auf den erhofften Play-off-Platz.