Kaiserstadt, Industriestadt und 2025 Kulturhauptstadt Europas? Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt hat sich viel vorgenommen. Die farblose ehemalige DDR-Bezirksstadt hat sich sehr verändert.
Staunend stehen die Touristen vor dem Hundertwasserhaus, der grünen Zitadelle inmitten von Magdeburg. Christine Prehn ist eine von ihnen. Das hatte sie so nicht erwartet. Sie war in den 1970er Jahren das letzte Mal in der Stadt, und ihre Erinnerungen daran sind eher düster: eine Industriestadt, alles grau in grau. Nach der Ausbildung sollte sie hier beruflich Fuß fassen. Aber sie entschied sich für eine andere Stadt. Jetzt stimmt sie der Begeisterung ihrer Begleiterinnen zu: "Magdeburg empfindet man nicht mehr so düster, die Stadt strahlt Zufriedenheit aus."
Um die ganze Faszination der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt zu entdecken, empfiehlt es sich, etwas Zeit mitzubringen. Die braucht man, um die Kleinode der Stadt zu besuchen, zu genießen und ihre Vergangenheit zu verstehen. Von ihnen gehen auch die Impulse aus, die Magdeburg für die Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas 2025 braucht. Für diesen Titel bewirbt sich die Stadt unter der erfahrenen Leitung von Tamás Szalay, der Pécs zum Titel Kulturhauptstadt Europas 2010 geführt hatte.
Der erste Eindruck trügt
Das Entrée in die Stadt ist nach wie vor etwas ernüchternd: Nicht nur die Touristin Christine Prehn hatte sich beim Vorbeifahren an dem gleichförmigen Plattenbaumix sicher gefragt, ob Magdeburg wirklich einer Kulturhauptstadt würdig ist. Doch der erste Eindruck trügt, und viele trauen sich ja auch weiter vor. Vom Touristenamt ist zu erfahren, dass 2016 bei den Übernachtungen eine Steigerung von 3,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen war. Die 620.000 Gäste sind in Magdeburg offensichtlich gern gesehen: Bereits beim Parken am historischen Domplatz wirken die moderaten Parkgebühren wie ein Willkommensgruß.
An diesem historisch-majestätischen Platz präsentiert sich in geballter Form bis heute die 1.000-jährige Geschichte der Stadt: aus der Romanik der gotische Dom St. Mauritius und St. Katharina, Häuser im Barockstil des 18. Jahrhunderts und aus der Neuzeit das ehemalige Reichsbahngebäude, das zukünftig das neue Dommuseum beherbergt und natürlich das Hundertwasserhaus. Aber Magdeburg bietet noch mehr.
"Die seit 805 urkundlich erwähnte Stadt verstand sich von Anfang an als Brücke zwischen Ost und West", erklärt Stadtführerin Ursula Hartmann den Touristen auf ihrem Rundgang. "Strategisch am Schnittpunkt von Fernhandelsstraßen und dem Wasserweg Elbe gelegen, entwickelte sich die Stadt im Mittelalter sehr rasch." Bereits im 12. Jahrhundert bildete sich das Magdeburger Stadtrecht heraus, Vorbild für viele Städte europaweit. Der erste große Rückschlag kam 1631 im Dreißigjährigen Krieg: Die Stadt wurde dermaßen stark zerstört, dass sich das Unwort "magdeburgisieren" für totale Verwüstung erhalten hat.
Mit der ersten industriellen Revolution bestimmten rauchende Schlote das Magdeburger Stadtbild. Vor allem der Maschinenbau blickt heute auf eine über 200-jährige Tradition zurück. Große Werke wie zum Beispiel die einstigen Maschinenfabriken und Eisengießereien der Gründer Herman und Otto Gruson, von Bernhard Schäffer und Christian Budenberg, Eugen Polte und Rudolf Wolf schufen Tausende von Arbeitsplätzen. Wolfs Maschinenfabrik produzierte ab 1864 Kettendampfer für die Binnenschifffahrt auf der Elbe: Die fuhren entlang einer mitten im Fluss verlaufenden Eisenkette bis nach Hamburg. Sogar nach 1945 wurde diese energieeffiziente Form der Schleppkraft noch genutzt. Die Touristen können heute den einzigen noch erhaltenen Kettenschleppdampfer "Gustav Zeuner" im Magdeburger Wissenschaftshafen besichtigen.
Von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts wächst Magdeburg auf die dreifache Einwohnerzahl und wird mit über 200.000 Einwohnern zu einer Großstadt. Fabrikschornsteine dominieren vor dem Ersten Weltkrieg das Stadtbild. Lokomotiven und Nähmaschinen, Dampfkessel und Dampfmaschinen, Maschinen für den Braunkohleabbau, für die Landwirtschaft und für die Zuckerfabriken sowie Messgeräte, aber auch Waffentechnik: Das ist nur eine Auswahl von Produkten aus der industriellen Blütezeit von Magdeburg. Dazu begünstigten Erfindungen und Patente den wirtschaftlichen Fortschritt der Stadt enorm. Adolf Neubauer, ehemaliger Professor für Maschinenbau an der Technischen Universität (TU) Magdeburg, sieht deswegen auch in der Magdeburger Industriekultur einen wichtigen Baustein für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt.
Stadt der Gründer und Talente
Nach 1945 beherrschen Großbetriebe und Kombinate die Wirtschaft Magdeburgs. So war der Volkseigene Betrieb (VEB) Sket, das Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann, hervorgegangen aus dem Krupp Grusonwerk Magdeburg, mit 18 Betrieben und etwa 30.000 Mitarbeitern einer der größte Arbeitgeber in der DDR. Dann kam der Bruch: 1989/1990 folgte ein totaler Strukturwandel. Waren vor der Wende noch 80 Prozent aller Arbeitnehmer in der Industrie beschäftigt, so sind es heute nur noch 4,5 Prozent. 60.000 Bürger verließen die Stadt.
"Magdeburg musste einen Weg finden, sich wieder neu zu positionieren. Die Stadt hatte schon die Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie mehrmals Pest und Seuchen überwunden. Jetzt kam eine erneute Herausforderung auf uns zu", erklärt Rainer Nitsche, Beigeordneter für Wirtschaft, Tourismus, und regionale Zusammenarbeit den neugierigen Touristen. Heute agieren im Sket-Industriepark vielseitige mittelständische Unternehmen, die sich sowohl mit dem traditionellen Maschinenbau als auch mit innovativen Wind-Energieanlagen beschäftigen. Die strukturelle Neuausrichtung setzt erfolgreich auf unterschiedliche wirtschaftliche Pfeiler wie die Informations-, Umwelt- und Medizintechnik.
"Unternehmer und Wissenschaftler siedeln sich an und loben die Stadt wegen ihrer optimalen Rahmenbedingungen", sagt Nitsche weiter. "Magdeburg ist heute wieder auf steigende Einwohnerzahlen stolz. Als Stadt der Gründer und Talente mit dem Wissenschaftshafen, der Denkfabrik, dem Fraunhofer- und dem Max-Planck-Institut sowie über 18.000 Studenten hat Magdeburg beste Voraussetzungen, nachhaltige Ideen als Kulturhauptstadt zu entwickeln."
Heute sind es längst nicht mehr die Schornsteine, die das Stadtbild prägen. Auch die Mehrzahl der Baukräne ist verschwunden. Über das Stadtgeschehen wacht nach wie vor stolz der alte Dom mit seinen 104 Metern Höhe. Wer die 433 Stufen erklommen hat, wird mit einem ausgedehnten Blick über eine Stadt mit vielen Parks und Grünflächen und dem blauen Band der Elbe belohnt. In der Ferne schlängelt sich der Elberadweg am Fluss entlang. Er ist zum 13. Mal in Folge zum beliebtesten Fernradweg Deutschlands gewählt worden laut Radreiseanalyse des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Ein Geheimtipp ist auch die Elbeschaukel an der Hubbrücke: Hier hat man einen überwältigenden Blick auf die Altstadt. Noch ist alles in der Vor-Bewerbungsphase. "Von außen schaut man schon seit Jahren mit Achtung auf uns", ist Prof. Dr. Matthias Puhle, Beigeordneter für Kultur, Schule und Sport der Landeshauptstadt, überzeugt. Noch sei nicht allen Bürgern bewusst, welche Besonderheiten ihre Stadt bietet. Aber das Ziel werde nicht erreicht, wenn die rund 240.000 Magdeburger die Bewerbung zur Kulturhauptstadt nicht begeistert begleiten.
Ein Teil zu der Begeisterung könnte auch die Musik beitragen. "Telemania" sehen Touristengruppen wie die von Christine Prehn überall in der Stadt plakatiert. So wird Georg Philipp Telemann (16811767), der bekannteste Komponist der Stadt, geehrt. Seit 2001 gibt es einen ihm gewidmeten Musikwettbewerb.
Auch Architekten und Stadtplaner wie Bruno Taut, Johannes Göderitz und Carl Krayl haben in der Stadt ihre Spuren hinterlassen. Sie bauten in der Gartenstadt-Kolonie "Reform" und in der Curie-Siedlung Häuser, die soziales und menschenwürdiges Wohnen ermöglichen sollten. Die unmittelbare Nähe von Arbeiten, Wohnen und Leben war zu ihrer Zeit eine fortschrittliche Idee. Noch heute profitieren die Bewohner der restaurierten Siedlungshäuser von ihrer hohen Wohnqualität.
Und dann gibt es da noch Magdeburgs zweiten Namen: die "Ottostadt". Zwei Gründe stehen hinter dieser Benennung. Zum einen hat sich die Stadt den Beinamen zugelegt, weil der erste deutsche Kaiser, Otto I., der Stadt zu seiner Größe verhalf. Zum anderen entstand er zu Ehren von Otto von Guericke (16021686), dem Bürgermeister und Erfinder der Kolbenvakuumluftpumpe. Er wurde weltweit durch seinen legendären physikalischen Versuch mit den Magdeburger Halbkugeln bekannt. Selbst zwei Gespanne zu je acht Pferden konnten die Halbkugeln nicht auseinanderziehen. Weil von Guericke im Innern ein Vakuum erzeugt hatte, hielt der äußere Luftdruck die beiden Hälften eisern zusammen. Eine Entdeckung mit ungeahnten Folgen.
Jedenfalls: "Otto" hat sich Besucherin Christine Prehn nach ein paar Tagen Magdeburg so eingeprägt, dass ihr der Name schließlich in den Ohren klingt. Otto zeigts Dir, Otto ist gesellig, Otto macht Theater, Otto ist sehenswert, Otto läuft Marathon, Otto ist groß, Otto liebt Fußball, Otto on tour oder Otto baut... Zusammengefasst: Otto ist aktiv.
Sie hat mittlerweile ihre Stadttour beendet und sitzt bei Lena Gehlfuss und Melani Weber im Kuchenatelier. Die beiden haben ein kleines Café in einem sanierten Gründerhaus mit Qualität und einem hohen Wohlfühlfaktor eröffnet. Bereits jetzt platzt es aus allen Nähten.
"Magdeburg ist rundum vielfältig und sympathisch geworden", fasst Christine Prehn nach ihrer Stadttour zusammen. "Ich glaube, die Stadt wird eine ganz besondere Vision als Kulturhauptstadt entwickeln." Und sagt statt Magdeburg auf gut anhaltinisch: "Machdeburch".
Gaby Schlegel
Info:
Kulturhauptstadt Europas was bedeutet das?
Der Titel der Kulturhauptstadt Europas wird von der Europäischen Union in der Regel an zwei Städte der Mitgliedsstaaten für ein Jahr verliehen. Er ist keine Auszeichnung für Vorhandenes, sondern Ergebnis eines Wettbewerbs. In Deutschland wird 2025 wieder eine Stadt "Kulturhauptstadt Europas" sein dürfen. Aber es könnte auch noch bis 2040 dauern, weil alle EU-Mitgliedsstaaten im Rotationsverfahren beteiligt werden.