Jedes Jahr pilgern Millionen zu Musikfestivals. Grund genug, einen Blick hinter die Kulissen von Open-Airs zu werfen, die außergewöhnliche Wege gehen: über Rekorde, Hippie-Rock und einen besonderen Staat.
Nachts um halb zwei auf dem Gelände eines Open-Airs. Immer noch liegt wohlige Wärme in der Luft. Die Augen geben den Takt an, nicht die Füße. Die Pupillen weiten sich im Sekundentakt, denn Staunen hat in diesen Momenten Hochkonjunktur. Den Betrachter erwartet ein Meer an Impressionen: Kegel jonglierende Gaukler, flirrende Glühwürmchen, eng umschlungene Paare und eine gewaltige Bühne. Festivals sind Inseln der Freiheit und magische Begegnungsstätten. Vor dem Hintergrund der Vielfalt an Angeboten lohnt sich ein Blick auf Events mit dem besonderen Etwas ungewöhnliche Einblicke sind garantiert.
Joints, Matsch und eine riesige Kommune auf einem Fleck das "Burg Herzberg Festival" trägt das Herz nicht nur im Namen, sondern bringt es auch auf den Platz. "Ein Stück heile Welt", beschreibt ein letztjähriger Besucher die Veranstaltung im osthessischen Breitenbach. Andere taufen sie "Hippiemekka" oder "Deutsches Woodstock". Kein Wunder: Mit Friedenstauben bemalte Volkswagen-Busse, Stände, an denen Batik-Klamotten feilgeboten werden, nahezu in Trance fallende Hula-Hoop-Tänzerinnen und ausgefallene Dreadlock-Frisuren bestimmen das Bild. Alles spielt sich friedlich und in unerreichter Harmonie ab, gelauscht wird etwa psychedelischen Klängen und Krautrock-Experimenten, daneben finden Blues- und Folkkünstler Gehör. Anfangs lockte die Veranstaltung, die etliche Stammgäste, auch aus Frankreich, Belgien und der Schweiz, hat, gerade einmal wenige Hundert Besucher an.
Aus wenigen Hundert wurden 12.000
Inzwischen zelebrieren 12.000 Jünger aller Generationen sogar Hunde sind herzlich willkommen ihre Helden von damals und heute. "Echte" Hippies machten laut Veranstalter Gunther Lorz fünf bis acht Prozent aus. Die meisten Besucher sympathisierten einfach mit deren Lebenseinstellung und seien darauf aus, den Alltag mit all seinen stressförderlichen Begleiterscheinungen hinter sich zu lassen. Freuen können sie sich vom 27. bis 30. Juli etwa auf Patti Smith, Irie Révoltés oder Kansas.
Ein gänzlich anderes Publikum zieht der "Big City Beats World Club Dome" an. Zwar betonen auch DJs, die neuen Superstars der Musikbranche, immer wieder, dass es bei ihrer Musik um Freiheit, Liebe und Toleranz gehe, allerdings handelt es sich bei den Empfängern dieser Botschaften keinesfalls um Alt-68er, Friedensaktivisten oder Konsumverweigerer, sondern vielmehr um eine Zielgruppe, die mit Instagram aufwacht, um die neuesten Modetrends zu entdecken, in der Mittagspause auf Tinder Flirtpartner nach rechts (attraktiv) oder links (unattraktiv) wischt und abends auf Netflix Serien schaut. Dass es sich beim "Big City Beats World Club Dome" trotzdem um eine außergewöhnliche Veranstaltung handelt, zeigt bereits das Drumherum. In 10.000 Metern Höhe schwebt ein spezieller Festival-Jet von Paris aus nach Frankfurt, macht dabei in London und Hamburg halt. Die Boeing 747 wird mit vier DJ-Areas ausgestattet. Wer Flugangst hat, kann mit einem zu einer länglichen Tanzfläche umgebauten ICE bei 320 Stundenkilometern und eingängigen Rhythmen zum Event reisen; die Stationen lauten Paris, Straßburg, Baden-Baden, Mannheim und Frankfurt.
Ein Stadion wird zum riesigen Club
Die Hauptparty steigt dann in der Commerzbank-Arena, wie Bernd Breitner, Organisator des Events, erklärt: "Die Arena liegt mitten in der Stadt, sie kann durch das weltweit größte Stahl-seil-Membran-Innendach geschlossen und somit zur Halle werden. Hinzu kommt der Außenbereich mit dem Club Circle, der Pool Area und dem Club Forest, sodass eine Gesamtfläche von 700.000 Quadratmetern erreicht wird." Die Vision, das Frankfurter Stadion in einen riesigen Club zu verwandeln, sei dem Gründer des Radiosenders Big City Beats schon jahrelang vorgeschwebt. Mit kleineren Partys und Tagesevents tastete sich der 46-Jährige an sein größenwahnsinniges Ziel heran. Mittlerweile besuchen mehr als 120.000 Besucher aus über 52 Ländern das Happening, das mit Kameras, Zäunen und eigener Polizeiwache ausgestattet ist. Die gigantischen Ausmaße bewegten das renommierte DJ Mag aus England dazu, den "Big City Beats World Club Dome" als "biggest club in the world" zu bezeichnen. Musikalisch wird vom 2. bis 4. Juni eine Zeitreise durch sämtliche elektronischen Genres geboten. Klassische Techno-DJs wie Sven Väth legen genauso auf wie die Crossover-Combo Deichkind und der deutsche EDM-Weltstar Zedd.
Wechselt man von der Stadt aufs Land, so führt die Route womöglich nach Neuhausen ob Eck. In dem beschaulichen Örtchen bei Tuttlingen steigt alljährlich auf dem Take-off-Gewerbepark das "Southside Festival". Trotz seiner beachtlichen Größe 60.000 Menschen feiern auf dem Areal legt der Veranstalter ausdrücklich Wert darauf, die Aspekte Ökologie und Nachhaltigkeit im Markenkern zu verankern. Julia Baer, die sich innerhalb der Konzertagentur FKP Scorpio dieser Themen annimmt, verrät: "Wir haben schon immer versucht, nachhaltig zu denken, und so ist das Müllpfandsystem für alle Gäste bereits seit 2002 fester Bestandteil des Festivals. Deutlich weiterentwickelt hat sich dieses Engagement seit 2011. Vom Campingangebot Grüner Wohnen, bei dem es den Gästen ermöglicht wird, in respektvoller und gepflegter Atmosphäre das Open-Air zu genießen, bis hin zu unserem Recyclingprojekt, mit dem wir versuchen, einen möglichst großen Anteil der Abfälle effizient und sortiert zu entsorgen." Ticketinhabern wird eine kostenlose Zugreise ermöglicht. Zudem unterhält der Ausrichter eine Kooperation mit den regionalen Tafeln, die nicht mehr benötigte Lebensmittel der Festivalbesucher erhalten.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Zusammenarbeit mit der Hilfsorganisation Viva con Agua, die 2008 ins Leben gerufen wurde. "Anstoß hierfür war ein Treffen, das sich mit der groben Idee, gemeinsame Sache für eine weltweite Trinkwasserversorgung machen zu wollen, beschäftigte. Von diesem Moment an wurden Ideen gesucht, Aktionen ausprobiert und das ganze Engagement weiterentwickelt", erläutert Baer. Eine dieser Ideen ist das Becherpfandprojekt, bei dem Gäste den ausstehenden Betrag nicht zurückfordern, sondern spenden. Insgesamt konnten letztes Jahr durch sämtliche Spendenaktionen 103.420 Euro für sauberes Trinkwasser, verbesserte Sanitäranlagen und regelmäßige Schulungen in Entwicklungsländern gesammelt werden. Besser ist es also, mit gutem Gewissen zu feiern, wenn Bands wie Green Day, Linkin Park oder Milky Chance vom 23. bis 25. Juni einen ehemaligen Militärflughafen zum Beben bringen werden.
Ab ins Ausland, Richtung Osten. An einem idyllischen Ort in Georgien, direkt am Meer, findet "Kazantip" statt. Auf dem breiten, sauberen Strand wird traditionell eine eigene Republik gegründet. Das Präsidium von "Kazantip" bezeichnet seinen "Staat" als Irrenhaus laut Artikel 11 der Verfassung gelten Freaks als Kulturgut und stehen unter dem Schutz des Kultusministeriums. Seinen Regierungsauftrag würzt es mit einer Menge Techno und einer Prise Trance. Wer mitfeiern möchte, benötigt ein Festival-Visum und einen gelben Koffer mit verchromten Metallecken.
Fünf Wochen lang, von Mitte Juli bis Mitte August, feiern Zehntausende auf Dancefloors, die von über 300 DJs viele legen kostenlos auf beschallt werden. Auf dem Festivalgelände befindet sich eine aufsehenerregende Mars-Landschaft mit surrealen Skulpturen; aus den Bäumen wachsen Brüste und die Toiletten sind Ufos, viele Bars sehen aus wie Labore. Feuertänzer und Stelzenläufer mischen sich unter die Besucher. So verschieden wie die Persönlichkeiten, die hier anzutreffen sind, ist das, was sie hier erleben oder suchen. Viele von ihnen berichten, nur hier zwanglos und unkontrolliert sein zu können. "Kazantip" das ist eine Parallelgesellschaft der ganz speziellen Art.
Von André Gärisch
Info:
BigCityBeats World Club Dome
Frankfurt am Main, 2. bis 4. Juni
Infos und Tickets:
www.worldclubdome.com
Southside Festival
Neuhausen ob Eck, 23. bis 25. Juni
Infos und Tickets:
www.southside.de
Burg Herzberg Festival
Breitenbach am Herzberg,
27. bis 30. Juli
Infos und Tickets:
www.burgherzberg-festival.de
Kazantip (Georgien)
Anaklia, 14. Juli bis 14. August
Infos und Tickets:
www.kazantip.com