Die Döberitzer Heide ist bequem mit der S-Bahn von Berlin aus zu erreichen. Hier leben Wisente, Rotwild und Urpferde, ohne dass der Mensch sich einmischt.
Gibt es eine ideale Landschaft? Meer, Berge oder doch Hügel? Lieblingsgegend sei Geschmackssache, mag man einwenden. Und doch. Es gibt eine Region auf dem Globus, von der der Mensch stammt; von dort zog er aus: Ostafrika ist neben Teilen Äthiopiens und Südafrikas eine Wiege der Menschheit, dort lernten wir den aufrechten Gang, strömten aus der Olduvai-Schlucht heraus in die Welt. Und wanderten erst einmal durch die Serengeti. Da kommen wir alle her. 6.000 Generationen hat das gedauert, nicht all zu lange. Vielleicht ist davon etwas in uns geblieben, auch ein Gefühl für eine ideale Landschaft. Man schaue sich nur Stadtparks an: Kurzgrasrasen wie in der offenen Savanne, große Bäume mit Abstand dazwischen, auf die konnten wir raufklettern, auf der Flucht vor großen Tieren.
Und wenn es so eine Landschaft auch bei uns gäbe, in Mitteleuropa, vor den Toren der deutschen Hauptstadt? Vom Aussichtsturm in der Döberitzer Heide schweift der Blick weit. Zunächst über offenes Gelände, niedriges Buschwerk vereinzelt eingestreut, dahinter steigt die Landschaft gemächlich an, am Horizont sind Bäume zu sehen, nicht sehr dicht stehend. Nirgends ein Haus. Staubfahnen wehen von einem fernen Pfad herüber. "Wildnis", sagt Peter Nitschke. Nitschke hat Förster gelernt, sieht aus wie ein ehemaliger Hausbesetzer aus Berlin, Ost, trägt zwei Ohrringe und ist Geschäftsführer von Sielmanns Naturlandschaft Döberitzer Heide. Eine Wildnis, die mit der S-Bahn von Berlin aus zu erreichen ist? Ja, sagt Nitschke. Und große, wilde Tiere gibt es auch: 70 Wisente leben hier.
Die Döberitzer Heide war jahrhundertelang Militärgebiet, es begann schon mit einem Großmanöver, angeordnet vom Soldatenkönig, von Friedrich Wilhelm I. Den weiteren Ausbau des Truppenübungsplatzes Döberitz übernahm Kaiser Wilhelm II. Während der Olympischen Spiele 1936 fanden militärische Wettkämpfe statt, zehn Jahre später übernahm die Rote Armee. Heinz Sielmann, Naturfilmer und Verhaltensforscher, besuchte nach dem Fall der Mauer den Todesstreifen der innerdeutschen Grenze und setzte sich dafür ein, das grüne Band für den Naturschutz zu erhalten. Aus diesem Engagement wurde die Heinz Sielmann Stiftung, die in ehemaligen Tagebauen und auf Truppenübungsplätzen Lebensräume für bedrohte Arten schafft, 12.000 Hektar sind es in Brandenburg.
Wehrübungen und Panzerfahrten haben eine offene Landschaftsform hinterlassen, ohne landwirtschaftliche Nutzung, ohne Besiedelung, aber bevölkert von Tausenden von Pflanzen und Tieren, "darunter Seeadler und Wiedehopf, Fischotter und Sumpfknabenkraut", rattert Nitschke herunter. Nun sorgen urzeitliche Grasfresser dafür, dass die Landschaft so weitläufig bleibt. "Eine Win-win-Situation", sagt Nitschke, denn Wisente, die hier eine Heimat gefunden haben, "sind seltener als Pandas!" Vor zehn Jahren kaufte die Heinz-Sielmann-Stiftung rund 3.500 Hektar, mittlerweile umfasst das Schutzgebiet die Größe von 5.500 Fußballfeldern, eine "optimale Landschaft für große Grasfresser. Diese Tiere erledigen durch ihr Fressverhalten dasselbe wie Kühe."
Jahrhundertelang war hier ein Militärgebiet
Wisente sind Wildrinder, gewaltige Tiere, deren Vorfahren vor gut zwei Millionen Jahren in den Steppen und Mischwäldern auf dem Kontinent grasten, von Nordspanien bis in die Mongolei. Ein Schwung machte rüber über die Beringstraße auf den amerikanischen Kontinent, schuf die Bisonherden der Prärien. Doch als die Menschheit sesshaft wurde und begann, Wälder zu roden und sich die Erde untertan zu machen, wurde es in Europa und Asien eng für den Wisent, der seit der Ausrottung des Auerochsen Europas schwerstes und größtes Landsäugetier war. Im achten Jahrhundert verschwand das Wildrind aus Frankreich, im 16. Jahrhundert starben die letzten Exemplare der Art in Deutschland. Nun leben die Tiere wieder hier, unzugänglich für Besucher. Zu sehen sind aber doch welche, denn Sielmanns Naturlandschaft teilt sich in drei Bereiche auf: in das Schaugehege, die Eingewöhnungs- und die Wildniskernzone.
Nitschke führt Besucher zum Schaugehege. Schwere, dunkelbraune Tiere, Stierhörner. Sie stehen träge auf einer umzäunten Wiese. Plötzlich wirft sich eines hin, wälzt sich im Staub. "Herrlich, herrlich!" ruft Peter Nitschke. "Wisente lieben Sandbäder." Doch "die können 60 Stundenkilometer schnell rennen" sagt Nitschke. Und wo Wisente sich im Staub wälzen, wächst kein Gras mehr. Regelrechte Sandmulden breiten sich aus. Darüber freuen sich Nitschke zufolge die Eidechsen, "die laufen nicht gerne im Gras." Nebenan erbebt der Boden, zehn sandfarbene Pferde galoppieren vom einen Ende des Gatters zum anderen. Die Pferde mit dem schwer aussprechbaren Namen halten Rast unter Robinien. Przewalskipferde, Nitschke geht das natürlich flüssig von den Lippen, "sind die letzten noch lebenden Wildpferde". Seit den 60er-Jahren gilt das kurzbeinige Pferd, das früher durch die Steppen des eurasischen Raumes zog, als in freier Wildbahn ausgestorben. "Alle heute lebenden Przewalskipferde gehen auf 14 Gründertiere zurück." Seit 2006 traben einige ihrer Nachfahren auch am Stadtrand von Berlin, als Rasenmäher.
Da die Landschaft bereits begann, zuzuwachsen, wurde sie für das Schaugehege entkusselt. Stirnrunzeln bei den Zuhörern. "Entkusseln bedeutet, junge Gehölzer rauszuhauen". Vom Schaugehege ziehen die Tiere Wisente, Pferde und Rotwild in die Eingewöhnungszone. Einige der Wisente kommen aus Zoos, "die sind es nicht gewöhnt, Futter suchen zu müssen." Das sollen sie hier lernen, und Nitschke erzählt erfreut, wie schnell das geschah. "Das hätten wir so gar nicht erwartet." Bevor Nitschke und seine Arbeiter die "Megaherbivoren" (Herbivoren sind Tiere, die sich von krautigen Pflanzen ernähren) in die Wildnis entlassen, müssen sie diese untersuchen und impfen. Dafür werden sie betäubt. Nitschke, selbst Jäger, hat einen Heidenrespekt vor dem Betäubungsmittel: "Ein Tropfen auf der Haut, und Minuten später bist du tot." So tragen sie bei der Betäubungsjagd Ampullen mit einem Gegenmittel (Antidot) in der Hosentasche, "das müssten wir uns sofort spritzen, falls etwas daneben geht." Wisente sind robuste Tiere. Das Betäubungsmittel stammt aus Südafrika, "die Hälfte der Dosis legt einen Elefanten um." An die Dosierung mussten sie sich rantasten, und zum Aufwachen muss wiederum ein Antidot gespritzt werden. "Dann aber sind sie nach fünf Minuten wach, und du musst zusehen, dass du Land gewinnst."
"Ein Tropfen auf die Haut, und Minuten später bist du tot"
Um die Naturlandschaft Döberitzer Heide führt ein 20 Kilometer langer Wanderweg. Da steht auch der Aussichtsturm, von dem aus diese Savannen-Heide-Landschaft zu überblicken ist. Und hier in der Eingewöhnungszone schubbern die großen Tiere schon mal an den Bäumen. "Wisente haben einen ausgeprägten Spieltrieb", sagt Nitschke, das habe er selbst erst durchs Beobachten gelernt. Zwei der Wisente tragen dicke Sender-Halsbänder. So können die Tiere auch in der Wildniszone beobachtet werden. Die Sender verraten, wann ein Wisent ruht, wann er frisst und wie weit er wandert.
In der Ferne, auf einem sandigen Weg, fährt ein Allrad-Fahrzeug entlang, Staubfahnen wehen übers Land. Als wären wir auf Safari in Afrika. Das schwere Fahrzeug brettert den Wanderweg entlang: ein "Ello", der Unimog des Ostens. Arbeiter kontrollieren die Zäune. Zu fünf Angestellten kommen "übers Jahr 800 geförderte Arbeitskräfte. Diese Leute sind mit Enthusiasmus dabei. Ohne sie hätten wir es nicht geschafft!"
800 geförderte Arbeitskräfte packen übers Jahr mit an
In der innersten Wildniszone leben auf 2.000 Hektar etwa 14 Przewalskipferde, 58 Wisente und 60 Stück Rotwild, ganz ohne Eingriff des Menschen. "Und hier haben wir noch mehr urzeitliche Tiere", sagt Nitschke und geht auf dem Wanderweg in die Hocke. Aber anders als die durchziehenden Wölfe, die schweren Wisente, die Pferde und Hirsche sind diese Tiere kaum zu sehen: Urzeitkrebse. "Die Tierart braucht genau diese Art von Gelände." Nitschke erzählt die erstaunliche Lebensgeschichte von Triops Cancriformis und Branchipus Schaefferi. "Die Eier können jahrelang im Staub liegen", weiß er. Wenn es regnet lässt der verdichtete Boden, den die Panzerfahrten gebildet haben, sie zum Leben erwachen. "Dann bilden sich auf dem harten Grund Pfützen. Darin wachsen die fingergroßen Krebse heran."?
Noch einmal steigen wir auf den Aussichtsturm und sehen in der Ferne weitere Wisente, schwer auszumachen zwischen den Bäumen. Wie das ausgesehen haben mag, als Herden dieser imposanten Tiere durch die Steppen Europas und Asiens zogen? Bilder von nordamerikansichen Bisonherden fallen uns ein. Kurz nach unserem Besuch hat Nitschke mit seinen Mitarbeitern das Gatter geöffnet und die Wisente in die unzugängliche Wildnis entlassen in die Wildnis vor den Toren der Stadt.
Barbara Schaefer
Info:
Das Schaugehege Sielmanns Naturlandschaft Döberitzer Heide liegt in der Wustermark, erreichbar mit dem Zug, Bahnhof Elstal. Geöffnet täglich ab 10 Uhr. Eintritt ins Schaugehege Erwachsene 4 , Kinder 2 , die Wanderwege kosten keinen Eintritt.
Telefon 033234-24890
www.sielmann-stiftung.de/natur-erleben-schuetzen/doeberitzer-heide