Wie unsere Wortwahl unser ganz alltägliches Leben beeinflusst.
Kurzes Gedankenexperiment: In einem Raum sitzen 100 Arbeitnehmer. Es ist Dienstag, der nächste Tag ist kein Feiertag, und niemand der Anwesenden hat Urlaub. Wenn wir nun fragten, wer morgen alles arbeiten müsse, was denken Sie, wie viele Hände in die Luft gingen? Richtig: vermutlich 100. Der geneigte Leser (und auch der gerade aufgerichtete) wird jetzt fragen: "Und was ist daran verkehrt?" Nun, schauen wir uns das Hilfsverb noch einmal genauer an: Es lautet "müssen". Bloß warum, ist die Frage.
Denn genau genommen, müssen wir nicht arbeiten. Gibt es Alternativen? Klar: Arbeitslosigkeit, Armut, ein Aussteigerleben führen oder und da wirds kreativ sich eine Arbeitsstelle suchen, bei der man gar nicht erst das Gefühl hat zu "müssen". Denn irgendwann haben wir uns dafür entschieden, zeitliche Freiheit gegen finanzielle einzutauschen. Nicht müssen können wäre also richtig. Vielleicht hilft uns bereits ein bewussterer Umgang mit Sprache dabei, unsere Einstellung zu ändern.
Welche Wörter wir wählen, hat einen Einfluss auf unser Leben. Schließlich konstruieren wir unsere Realität hauptsächlich über die Sprache. Sprecher von Kuuk Thaayorre, einer Aborigines-Sprache, sagen zum Beispiel, dass ein Stein "nördlich" oder "südlich vom Baum liegt. Nicht links oder rechts. Sie haben immer eine absolute räumliche Wahrnehmung, egal wo sie gerade stehen. Und das scheint laut Sprachforschern auch mit ihrer Sprache zusammenzuhängen. Auch zeitliche Abläufe (Schritt 1, Schritt 2...) organisieren sie nicht von links nach rechts, wie wir es tun würden, sondern von Osten nach Westen. Sprache spiegelt die Realität, die wiederum als Anlass dient, Sprache zu formen. Hui, kompliziert.
Aber zurück: Mit Sprache sind also Realitäts-Konzepte verbunden. Und wenn Sprache so tiefgreifende Einflüsse auf unser Denken und unsere Wahrnehmung hat, warum sollte es dann keine Auswirkungen haben, wenn wir Morgen für Morgen aufwachen mit dem zermürbenden Gedanken, zu müssen. Ist es dann nicht klar, dass wir unter Druck stehen? Denn stellen wir uns ein Gegenbeispiel vor: Wir wachen mit der Aussicht auf, einen entspannten Ausflug mit Freunden machen zu dürfen. Da sieht die Sache gleich ganz anders aus. Komisch, was? Warum also nicht öfters "müssen" durch "dürfen" ersetzen? Denn Überraschung! wir haben die Wahl. Die Wortwahl sozusagen.
Aus "Ich muss noch einkaufen" wird so "Ich darf noch einkaufen". Klingt unnatürlich? Wie wäre es dann einfach mit "Ich gehe noch einkaufen"? Dann dürfen wir zwar nicht, aber immerhin steht das Müssen nicht im Vordergrund. "Ich muss noch meinen Anzug aus der Reinigung holen"? Nein, "Ich kann noch meinen Anzug aus der Reinigung holen. (In Gedanken:... denn glücklicherweise gibt es eine Trockenreinigung, die sich darum kümmert, wenn meine Klamotten so schmutzig sind, dass ich sie selbst nicht mehr sauber bekomme. Wie fabelhaft, dass es so etwas gibt!)".
Sollten Sie meinen, es gehe mir darum, zu behaupten, das Glas sei halbvoll statt halbleer, muss ich das korrigieren. Es geht nicht um "positives Denken", das die Realität verzerrt. Wenn wir jedoch ein wenig mehr Sensibilität für unsere Sprache und damit für unser Denken erlangen, gibt uns das ein Stück weit Kontrolle. Denn sind wir ehrlich: Jeder fühlt sich mitunter den sprachlichen Einflüssen hilflos ausgesetzt. Wenn wir uns aber bewusst machen, dass wir uns für das, was wir tun, irgendwann einmal entschieden haben, bewusst oder unbewusst, gibt uns das Verantwortung zurück. Also nicht positives Denken, sondern Demut, wenn man so will. Vieles müssen wir de facto nicht. Unsere Wortwahl behauptet aber etwas anderes. Das erscheint mir wenig sinnvoll.
Mein Opa sagte immer: "Ich muss gar nichts, nur sterben." Leider muss ich ihm da widersprechen. Denn wenn der Satz wahr ist, ist er gleichzeitig falsch: Das Sterben setzt erklärtermaßen voraus, dass wir vorher leben (müssen). Da das Sterben ganz gut von selbst gelingt, das Leben nur bedingt, sollten wir uns auf letzteres konzentrieren. Und das geht besser, wenn wir weniger müssen. Wirklich, das müssen äh, Verzeihung dürfen Sie mal ausprobieren!
Von Christian Krauß
Christian Krauß ist Texter, Lektor und Marketingliebhaber und hilft mit seiner Agentur kleinen Unternehmen dabei, weniger klein zu werden. Mit Vorliebe schreibt er über alle Facetten und Abwege der menschlichen Kommunikation.
LEBEN
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