Vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich liegen die Anti-System-Kandidaten vorn
Egal, wie die französischen Präsidentschaftswahlen ausgehen: Ein ehernes Gesetz wird mit hoher Wahrscheinlichkeit gebrochen. Seit Jahrzehnten gewann entweder ein Kandidat einer der Sozialisten oder der Konservativen.
Dieses Mal werden die Galionsfiguren der großen politischen Kräfte an den Rand gedrängt. Im ersten Wahlgang am 23. April, bei dem die beiden Erstplatzierten für die zweite Runde am 7. Mai ermittelt werden, dürften sie keine Rolle spielen. Benoît Hamon von den Sozialisten liegt mit radikallinken Positionen wie einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle abgeschlagen im hinteren Feld der Meinungsumfragen. François Fillon von den konservativen Republikanern hat sich mit einer Affäre um die Scheinbeschäftigung seiner Frau und zwei seiner Kinder praktisch selbst aus dem Rennen genommen.
An der Spitze liefern sich zwei Anti-System-Kandidaten ein Kopf-an-Kopf-Rennen: der parteilose Emmanuel Macron, der als Mann der Mitte das politische Spektrum zwischen sozialdemokratischen und gemäßigt koservativen Positionen abdeckt, und die rechtsextreme Marine Le Pen.
Macron ist die große Überraschung des Wahlkampfs. Der erst 39-Jährige hat sich nicht wie sonst üblich im Partei-Apparat nach oben gedient. Der begnadete Klavierspieler arbeitete nach dem Studium zunächst als Finanzdirektor im öffentlichen Dienst, dann in der Investmentbank Rothschild. Er diente von 2014 bis 2016 unter Präsident François Hollande als Wirtschaftsminister und gründete nach seinem Rücktritt die unabhängige Bewegung "En Marche" ("Vorwärts"). Macron macht sich für den weltweiten Freihandel stark sowie eine noch engere Integration der EU, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft und Verteidigung. Frankreich und Deutschland sieht er dabei als Schrittmacher.
Le Pen vertritt das glatte Gegenteil. Sie will der Globalisierung der Wirtschaft einen Riegel vorschieben. Nationale Abschottung und protektionistische Mauern zum Schutz der heimischen Unternehmen, lautet ihr Schlachtruf. Die 48-jährige Chefin der Rechtsaußen-Partei "Front National" betreibt Frankreichs Austritt aus EU und Eurozone sowie die Wiedereinführung des Franc.
Der Erfolg der beiden Außenseiter erklärt sich aus dem tiefen Misstrauen der Franzosen gegen die etablierte politische Klasse. Diese gilt als Kartell der Macht, das sich in Hinterzimmer-Kungeleien durchlaviert. 89 Prozent der Bevölkerung glauben, dass sich das Land in eine falsche Richtung bewegt.
Tatsächlich ist Frankreich seit etlichen Jahren von Stagnation geprägt. Die Arbeitslosenrate klebt an der Zehn-Prozent-Marke, jeder vierte Jugendliche hat keinen Job. 80 Prozent der neuen Stellen sind befristet. Die Firmen stellen kaum noch neue Leute ein, weil das starre Arbeitsrecht ihnen de facto keine Kündigungen ermöglicht. Die in Frankreich traditionell starken Gewerkschaften blockieren jede Flexibilität. So wird die 35-Stunden-Woche mit Zähnen und Klauen verteidigt. Kein Land in Europa, nicht einmal der Wohlfahrtsstaat Schweden, hat einen derart aufgeblähten öffentlichen Sektor wie Frankreich: Die staatlichen Ausgaben machen 57 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Kein Wunder, dass die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Wirtschaft auf der Strecke bleibt.
Aus dieser Immobilität speist sich der Wunsch nach einer tief greifenden Veränderung. Das weit verbreitete Unbehagen ist der Stoff für Frankreichs Revolution in der Politik. Viele Franzosen sagen: Jetzt sollen neue Kräfte ran.
Macron versucht, mit einer vorsichtigen Lockerung des Arbeitsrechts die Betriebe zu Neueinstellungen zu bewegen. Er will zudem 120.000 Posten im öffentlichen Dienst abbauen. Ein staatliches Investitionsprogramm soll die Wirtschaft auf Trab bringen. Es sind Rezepte, die in Deutschland sowohl bei der CDU/CSU als auch bei der SPD konsensfähig wären. Le Pen öffnet hingegen das soziale Füllhorn, plädiert etwa für die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters. Ähnlich wie Donald Trump in Amerika dient sie sich als Bannerträgerin der sterbenden Industrien an, die sie mit protektionistischen Maßnahmen wie Zöllen schützen will.
Macron oder Le Pen: Auch für Europa ist der Urnengang in Frankreich eine Schicksalswahl. Siegt Macron, bekommt die EU neuen Schwung. Macht Le Pen das Rennen, ist das europäische Projekt am Ende.
Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
POLITIK
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