Das politische Potenzial der Sozialdemokratie ist noch nicht ausgeschöpft
Etwas müde und auch etwas angefressen sah er schon aus, der sozialdemokratische Kanzlerkandidat und Vorsitzende Martin Schulz, als er nach der NRW-Wahl vor die Kameras ging. Als er rechtfertigen musste, warum es in seiner alten Heimat einem Stammland der SPD und nach einem unermüdlichen Wahlkampf zu nichts gereicht hatte, nicht einmal zu einem Achtungserfolg.
Man konnte es ihm nicht verübeln. Nachdem der sagenumwobene Schulz-Effekt im Saarland zumindest Schlimmeres verhindert hatte und in Schleswig-Holstein nicht zuletzt ein sehr unglücklich agierender Spitzenkandidat den sicher geglaubten Sieg verspielte, setzte man auf Nordrhein-Westfalen und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft als letzte Quelle von Zuversicht und zumindest ein wenig Aufbruchsstimmung.
Die Häme ließ nicht lange auf sich warten. In der nationalen wie der internationalen Presse wurde über Martin Schulz und seine Partei das Gericht gelesen, und es fehlte nicht an klaren Zuschreibungen. Nicht jede Kritik war berechtigt, aber unisono waren die relative Inhaltsleere beziehungsweise die Verengung der sozialdemokratischen Agenda auf das Thema "soziale Gerechtigkeit" als wichtige Faktoren ausgemacht. Das klingt erst einmal widersprüchlich, war es doch exakt diese Form der Engführung und Pointierung, die geholfen hat, die öffentliche Debatte vom leidigen Flüchtlingsthema fortzuführen und damit der AfD ein gutes Stück Wind aus den Segeln zu nehmen. Wenn es sonst auch keinen Schulz-Effekt gegeben haben mochte, dazu hat er sicher und dankenswerterweise einen Beitrag geleistet.
Für die SPD bleiben die tiefgehende Analyse sowie der trotzige Hinweis, dass nun der Bundestagswahlkampf erst beginne, jenseits der "störenden" Landtagswahlkämpfe. Man kann sich jetzt darüber streiten, ob Landtagswahlen tatsächlich sinnvoll als Behinderung bezeichnet werden sollten, denn für die CDU galt dies ja offenbar nicht. Und auch die FDP hat sich durch zweistellige Ergebnisse in zwei der drei Wahlen endgültig für die Rückkehr in den Bundestag warmgelaufen.
Die Behinderung bestand eher darin, dass die SPD im programmatischen Dilemma einer Volkspartei steckt, die die Suche nach ihrer Identität noch nicht abgeschlossen hat. Das klingt absurd für eine der ältesten deutschen Parteien, aber die Agenda-Politik Schröders und die Sozialdemokratisierung der CDU haben der SPD die Luft abgeschnürt. Für Umweltthemen stehen die Grünen bereit, die neu erstarkte FDP ohne schrille Töne reklamiert die Wirtschaftskompetenz für sich. Der hilflose Rückzug auf die "Gerechtigkeit" und dann auch noch in direkter Konkurrenz zur Linkspartei ist nicht mehr als der Versuch, sich doch noch irgendwie freizustrampeln und eine echte Alternative zu entwickeln.
Volksparteien sind aber nicht gut darin, "Alternativen" zu entwickeln, sie sind vor allem Manager von Inhalten, nicht notwendigerweise Innovatoren. Sie sind gut darin, Themen aufzugreifen und zu integrieren, nicht, diese auch zu setzen. Und sie müssen Mehrheiten schaffen, indem sie Offenheit behalten und nicht das Vergangene pauschal ablehnen. Wahlen werden in Deutschland strukturell in der Mitte gewonnen, und natürlich ist es schwer geworden, diese Mitte zu definieren. Gerhard Schröder umging dieses Problem einst, indem er einfach eine "neue Mitte" ersann, die er sich so zurechtschnitzte, wie sie ihm passte.
Auch ein gewiefter und nicht unintelligenter Vorsitzender Schulz sollte beginnen, sich nicht länger von den Strömungen seiner Partei nur treiben zu lassen, sondern stattdessen mit einer gewissen Führungsstärke nach dem distinkten Merkmal einer linken Mitte zu suchen. Bisher ist ihm diese Chance eher entglitten. Sein Potenzial als Kanzlerkandidat aber wird er erst entfalten können, wenn er ein wenig von der Führungsstärke und visionären Kraft beweist, die man seinem Vorvorgänger Schröder nicht zu Unrecht nachgesagt hat.
Dirk van den Boom
Dirk van den Boom, geboren 1966 in Fürstenau, studierte Politikwissenschaft in Münster und arbeitet als Consultant in den Bereichen Entwicklungszusammenarbeit, Migrationspolitik und Sozialpolitik. Er ist selbstständig, schreibt Romane und lebt in Saarbrücken.
POLITIK
picture alliance / NurPhoto
Schulz hat doch einen Effekt
MEHR AUS DIESEM RESSORT
Nachrichten aus Wirtschaft und Politik (12.4.2024)
Drei Fragen ...
12.04.2024
Nach gedacht: Trennlinien
Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen, das alles ganz gerne einde ...
12.04.2024
Neuorientierung
Die Zeitenwende bei der Bundeswehr ist zwar finanziert, aber d ...
12.04.2024
Kinder müssen warten
Es sollte das große sozialpolitische Reformprojekt werden. Soz ...
12.04.2024
Mühsame Erfolgsgeschichte
20 Jahre ist die letzte große EU-Erweiterungsrunde her. Ein mü ...
12.04.2024
Nahaufnahme: Hass, Hetze, Gewalt
Die Sprache von Donald Trump wird noch aggressiver und sprengt ...
12.04.2024
Nachrichten aus Wirtschaft und Politik (5.04.2024)
In eigener Sache: unser Papier ...
05.04.2024
Nach gedacht: Schwierige Wahrheiten
Der Dauerregen kann schon ganz schön aufs Gemüt gehen. Das Saarland is ...
05.04.2024