Die deutsche Leichtathletik läuft gegen den Strom
Im deutschen Spitzensport ist jenseits vom Fußball ein kontinuierlicher Abwärtstrend unverkennbar. Deshalb ist der zwischen dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und dem für den Sport zuständigen Bundesministerium des Innern (BMI) angedachte Reformprozess notwendig, wenn auch inhaltlich nicht in allen Teilen nachvollziehbar. Lokalpolitische Interessen bremsen manches aus. Olympiastützpunkte entstanden in den 80er-Jahren als Antwort auf die zentralen Sportclubs der damaligen DDR und sind inzwischen zu Statussymbolen der entsprechenden Regionen geworden. Nicht immer ist das drin, was das Etikett verspricht.
Die Leichtathletik in Deutschland ist eine der wenigen Sportarten, die es geschafft hat, den gegenwärtigen Trend im Spitzensport umzukehren. Zur Erinnerung: Mit dem Gewinn einer einzigen Medaille und vielen enttäuschenden Leistungen, beispielsweise kaum Endlaufplatzierungen in den Sprint- und Laufdisziplinen, waren die Olympischen Spiele 2008 in Peking der absolute Tiefpunkt. Man hatte den Eindruck, dabei zu sein sei tatsächlich alles.
Und wo steht die deutsche Leichtathletik heute? Früher waren es die Werfer, die die Kohlen aus dem Feuer holen mussten. Die Wurffraktion ist immer noch stark. Aber geradezu sensationell ist die Entwicklung in den Sprint-und Laufdisziplinen. Medaillen im Sprint hängen wohl derzeit noch zu hoch, aber der Abstand zur Weltspitze wird immer kürzer. Erfreulich, dass auch die 21-jährige Saarländerin Laura Müller in diesem Reigen mitmischt. Mit ihrer 200-Meter-Zeit gehört sie bereits jetzt zur europäischen Spitze. Bleibt sie gesund, wird sie über 400 Meter, ihre eigentliche Spezialdisziplin, zu einer Topathletin reifen.
Im Mittel- und Langstreckenlauf galten bisher die Afrikanerinnen als unschlagbar. Gesa Felicitas Krause hat diese Phalanx bereits bei der Weltmeisterschaft 2015 durchbrochen, indem sie über 3.000 Meter Hindernis die Bronzemedaille gewann. Die 20-jährige Konstanze Klosterhalfen ist der neue Shootingstar. Eine große deutsche Tageszeitung schrieb vom "größten Versprechen jenseits von Afrika". Treffender kann man es nicht formulieren, denn sie hat in diesem Jahr mehrere Schallmauern auf den klassischen Laufdistanzen zwischen 800 und 5.000 Meter durchbrochen.
Was sind die Ursachen für den Aufschwung der deutschen Leichtathletik? Äußerst komplex, möchte man antworten. Zweifellos hat der Deutsche Leichtathletikverband (DLV) in den vergangenen Jahren viel Geduld bewiesen und besondere Bedeutung auf die Weiterentwicklung junger Athletinnen und Athleten gelegt. Auch Top-8-Platzierungen bedeuten in einer Sportart, die von mehr als 200 Nationen betrieben wird, meist Weltklasse. Darüber hinaus hat man sich trainingsmethodisch teilweise neu orientiert. Internationale Wettkämpfe werden weniger gescheut als früher. Aber das Wichtigste von allem: Der DLV verfügt derzeit über einige außergewöhnliche Talente.
Im Gegensatz zur geplanten Spitzensportreform setzt der DLV auf Vielfalt der Disziplinen. Beispiel Dreisprung. Nach früheren Erfolgen fristete diese Disziplin lange Zeit ein Mauerblümchendasein, inzwischen gibt es eine neue Blüte. Allerdings funktioniert der angestrebte Transfer zwischen den einzelnen Disziplinen nicht durchgehend. Wie sonst ist es zu erklären, dass der Aufschwung in den kurzen Sprintdistanzen nicht bis zu den 400 Metern durchschlägt? In London ist kein einziger deutscher 400-Meter-Läufer einschließlich 4x400-Meter-Staffel vertreten. Eine ehemals deutsche Paradedisziplin verkommt zur Nischenstrecke. Bei den diesjährigen Deutschen Meisterschaften kamen Athleten mit Zeiten in den Endlauf, wie sie bereits vor Jahrzehnten, teilweise auf Aschenbahnen, gelaufen wurden.
Zurück zum Aufschwung der Leichtathletik. Der Dopingverdacht läuft, springt und wirft weltweit stets mit. Deshalb werden manche fragen, wie es die Deutschen mit Doping halten. Deutsche Sportler gehören mittlerweile zu den am besten kontrollierten Athleten, was dennoch Leistungsmanipulationen nicht ausschließt. Mit aller Vorsicht darf angenommen werden, dass der Aufschwung nicht auf verbotenen Mitteln und Methoden beruht. Verstehen wir es als Signal an andere Sportarten: Spitzenleistungen sind auch ohne verbotene Hilfsmittel möglich.
Von Wilfried Kindermann
Univ.-Prof. em. Dr. med. Wilfried Kindermann (76) ist Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Sportmedizin. Er war Arzt bei acht Olympischen Sommerspielen, Chefarzt des deutschen Olympiateams und von 1990 bis 2000 internistischer Arzt der Fußball-Nationalelf.
SPORT
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Erfreulicher Aufschwung
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