Über Sinn und Unsinn von Kollektivstrafen im Sport
In den vergangenen Wochen und Monaten wurde heftig über die Sinnhaftigkeit von kollektiven Sanktionen im Sport diskutiert. Jüngstes prominentes Beispiel war die Sperrung der Südtribüne im Dortmunder Fußballstadion. Vor dem Bundesligaspiel gegen RB Leipzig waren menschenverachtende Transparente wie "Bullen schlachten" oder "Häng dich auf" gezeigt worden. Bereits vor dem Spiel hatte es außerhalb des Stadions massive Ausschreitungen gegen Leipziger Fans gegeben. Genauso heftig umstritten war und ist der nicht erfolgte komplette Ausschluss der russischen Sportler von den Olympischen Spielen in Rio.
Doch zunächst zur Südtribüne im Dortmunder Stadion "Signal Iduna Park". Nahezu unisono wird beklagt, man könne nicht wegen 500 Unanständigen mehr als 24.000 Anständige bestrafen. Wenn mich meine Augen nicht getrogen haben, waren die unwürdigen Spruchbänder über große Teile der Südtribüne verteilt. Reaktionen der Anständigen hat es offenbar nicht gegeben, eher war es wohl ein Wegsehen.
Ich will nicht den Moralapostel spielen, denn möglicherweise wäre die Situation eskaliert, hätten sich die Anständigen gewehrt. Aber ich hätte mir gewünscht, dass auch darüber geredet oder geschrieben worden wäre, bevor die vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) ausgesprochene Komplettsperre der Südtribüne für ein Spiel kritisiert wird. Enttäuschend war auch die eher bescheidene Reaktion der 25.000 Zuschauer auf der Dortmunder Südtribüne im Pokalspiel gegen Hertha BSC vier Tage später. Da wurde eine Gelegenheit zur Wiedergutmachung verpasst.
Und warum hat die Vereinsführung vor Spielbeginn nicht auf die beleidigenden Transparente reagiert? Spätestens im "Aktuellen Sportstudio", als der Moderator Sven Voss den Dortmunder Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke interviewte, wäre Gelegenheit gewesen, diese Frage zu stellen und zu beantworten. Stattdessen verloren sich beide Seiten in kuscheliger Atmosphäre im Ungefähren. Im Übrigen, auch ein Traditionsverein sollte nicht über eine von RB Leipzig "promotete Dose" spotten, wenn er selbst börsennotiert ist und seinen traditionellen Stadionnamen an einen Versicherungskonzern verkauft hat.
Auch diskussionswürdig: kein Kollektivausschluss russischer Sportler wegen des Verdachts auf systematisches Doping bei den Olympischen Spielen in Rio 2016, aber kompletter Ausschluss der behinderten Sportler bei den Paralympics. Derselbe Tatverdacht, aber unterschiedliche Sanktionen. Wer hat Recht, was ist gerecht?
Es ist nachvollziehbar, nicht alle russischen Sportler zu sperren. Mit Wahrscheinlichkeit kann angenommen werden, dass nicht jeder russische Athlet dopt oder dass einige Athleten ohne ihr Wissen gedopt wurden. Der Antidopingkampf hat unter anderem zum Ziel, saubere Sportler zu schützen. Diese Athleten werden doppelt bestraft, wenn sie in einem verseuchten Umfeld allen Versuchungen trotzen, aber für die Verfehlungen anderer in Sippenhaft genommen werden.
Dennoch bleibt mehr als ein Geschmäckle zurück. Die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) ist spät aktiv geworden, so dass Zeitdruck entstanden war. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat fahrlässig gehandelt, die Einzelfallentscheidungen den internationalen Fachverbänden zu überlassen, zumal in einigen dieser Verbände wahrscheinlich russische Funktionäre über russische Sportler entschieden haben. Nur so ist zu verstehen, dass mehr als 70 Prozent der ursprünglich gemeldeten russischen Sportler die Starterlaubnis erhielten. Deshalb muss man auch jeden sauberen Sportler verstehen, wenn er einen Komplettausschluss für gerechter empfunden hätte.
Kollektivstrafen drücken eine gewisse Ratlosigkeit aus und können Probleme in den meisten Fällen wahrscheinlich nicht lösen. Jeder trägt für seine Taten die individuelle Verantwortung, und die individuelle Schuld muss nachgewiesen werden. Aber die Beispiele zeigen, wie schwierig es im Sport sein kann, Einzelfallentscheidungen zu treffen. Sportpolitisch riskieren Verbände und Funktionäre ihre Glaubwürdigkeit.
Von Wilfried Kinderman
Univ.-Prof. em. Dr. med. Wilfried Kindermann (75) ist Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Sportmedizin. Er war Arzt bei acht Olympischen Sommerspielen, Chefarzt des deutschen Olympiateams und von 1990 bis 2000 internistischer Arzt der Fußball-Nationalelf.
SPORT
picture alliance / Marcel Kusch/dpa
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