Juliana Kálnay wird von Literaturkritikern gefeiert. Besprechungen ihres Debüts "Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens" wecken vor allem die Neugier: fantastisch, surreal, magisch und schräg nennen Kritiker den Roman.
Dabei geht es allein um die Bewohner eines Hauses, um ihr Zusammenleben, um ihre alltäglichen Geschichten.
Da ist Rita, die das Haus länger kennt als alle anderen und immer genau mitkriegt, was im Haus passiert. Lina, die eine innige Beziehung zu dem Baum auf ihrem Balkon pflegt. Die chronisch Schlaflosen, die stets hungrig sind. Die Kinder, die im Treppenhaus mit Feuer spielen und stolz ihre Brandwunden vorführen. Zugegeben, einige Bewohner sind durchaus kurios: Tom, der im Aufzug wohnt, sich dort mit einem Sessel und einem Gummibaum häuslich eingerichtet hat. Die Morans, die in völliger Dunkelheit leben oder Ronda, die mit ihren Goldfischen kämpft, weil sie nicht im Aquarium bleiben wollen.
Nein, im Haus Nummer 29 geht es nicht mit rechten Dingen zu. Wenn einzelne Socken der Kinder abhandenkommen, finden zumindest die Mütter dies völlig normal. Aber dann verschwindet Maia von einem Tag auf den anderen, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen. Und wo Linas Mann Don geblieben ist, kann sich auch keiner erklären. Noch seltsamer mutet es an, dass Toni von einer Wand verschluckt wird und die rostfarbene Tür im Treppenhaus plötzlich nicht mehr vorhanden ist.
Während Kálnay die Porträts der unterschiedlichen Bewohner zeichnet, holt sie die Leser ins Haus, schaut mit ihnen in die Wohnungen, lauscht Dialogen im Wohnzimmer oder folgt Ronda, als sie nachts im Garten etwas vergräbt. Wer aufmerksam liest, entdeckt aus verstreuten Bruchstücken und Andeutungen im Text überraschende Zusammenhänge des Geschehens. Manches Rätsel bleibt ungelöst.
Das macht nichts. Genauso ist das Debüt: Rätselhaft. Unglaublich. Spannend. Magisch anziehend. Einzigartig. Muss man gelesen haben. Unbedingt.
Christine Bartholomae