Stundenlang kann Luisa sich in dem Dschungel verlieren, den Max ihr an die Wand gemalt hat. Als ob sie ahnt, wo ihre Zukunft liegt und die leise Sehnsucht endlich Ruhe finden wird. Dabei fühlt Luisa sich sehr zufrieden in ihrer kleinen Welt. Sie lebt in einer WG mit Fergus, Paul, Max und Irene. Die Sorglosigkeit und das Glück ihres Alltags geben ihr Halt.
Das Leben hätte immer so weiter gehen können, wenn nicht etwas Entscheidendes fehlen würde: Aza, ihre Mutter. Luisa erinnert sich nicht an Aza, und Paul redet nicht über sie. Es dauert sieben Jahre, bis Luisa sich mit Paul auf den Weg nach Südamerika macht, um ihre Mutter aufzuspüren. Doch bevor Luisa in Sao Paulo landet, führt ihre Reise sie in ein verschlafenes Dorf in Bayern, zu Azas Vorfahren. Der Blick in die Vergangenheit bringt eine dramatische Geschichte zu Tage. Stück für Stück kommt zum Vorschein, warum Aza der ungeheuren Idee folgte, Luisa nach ihrer Geburt aus dem Fenster zu werfen.
Stefanie Kremsers Roman "Der Tag, an dem ich fliegen lernte" berührt und fesselt auf besondere Weise. Mit feinem Gespür für das Erleben eines Kindes erzählt die Autorin Luisas Geschichte aus Sicht des Mädchens. Verblüffend zu lesen, wie treffend Luisa die Welt der Erwachsenen wahrnimmt und sich nicht scheut, das Tabu um Aza zu brechen. Während man als Leser Luisas Suche nach der Mutter mit allen Höhen und Tiefen begleitet, wird spürbar, welche Bedeutung der eigenen Herkunftsgeschichte für das Erleben von innerer Freiheit und Selbstachtung zukommt.
Kremser gelingt mit ihrem Roman mehr als eine Familien- und Liebesgeschichte. Sie gibt auch einen spannenden Rückblick auf die Auswanderung Deutscher nach Brasilien zum Ende des 19. Jahrhunderts. Ebenso vermittelt sie zwischen den Zeilen ihre Begeisterung für das Land und die Liebe für das pulsierende Leben in Sao Paulo. Das verwundert nicht: Die Autorin hat ihre ersten zwanzig Lebensjahre dort verbracht.
Christine Bartholomae