Durch zwei Fernsehsendungen wurden in den letzten Monaten große Hoffnungen auf ein neues Heilmittel in der Krebstherapie geweckt: Methadon. Ob es als Chemo-Verstärker tatsächlich Wunder bewirkt, wird wohl erst eine gerade beantragte klinische Studie beweisen.
Fast ein Jahrzehnt lang köchelte das brisante Thema auf kleiner Flamme. Obwohl die Chemikerin Dr. Claudia Friesen vom Institut für Rechtsmedizin an der Universität Ulm seit 2008 ihre möglicherweise bahnbrechende Entdeckung im Kampf gegen den Krebs immer wieder mittels eigener Publikationen oder Vorträge auf medizinischen Kongressen vorgestellt hatte.
So gut wie alle zuständigen ärztlichen Fachverbände, mit der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinischer Onkologie (DGHO), der Neuroonkologischen Arbeitsgemeinschaft (NOA), der Berufsverband der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen (BNHO) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie an der Spitze, meldeten erhebliche Zweifel an der von Friesen postulierten Wirksamkeit des gemeinhin nur als Drogenersatzmittel bekannten, vollsynthetischen Opioids Methadon in der Krebsbekämpfung an. Vor allem, weil dies bislang durch keinerlei klinische Studie belegt werden könne. Und weil es sich daher lediglich um eine experimentelle Therapie und individuelle Heilversuche ohne jegliche wissenschaftliche Beweiskraft handele. Und nicht zuletzt, weil Methadon reichlich unerwünschte Nebenwirkungen habe. Nur die Deutsche Krebshilfe setzte große Hoffnungen auf Methadon als potenzielles Krebsmedikament und unterstützte die Forschungen von Claudia Friesen daher mit knapp 300.000 Euro.
Wirkung auf Hirntumore wird untersucht
Doch erst durch zwei TV-Beiträge wurde die breite Öffentlichkeit über das Thema informiert und so stark sensibilisiert, dass Methadon seit einigen Monaten in den Medien und sozialen Netzwerken für Schlagzeilen sorgt. Zahlreiche Krebspatienten bestürmen mittlerweile ihre behandelnden Ärzte und Onkologen zur Verschreibung des vermeintlichen Heilmittels. Denn rein theoretisch darf jeder Mediziner gemäß der Betäubungsmittelverordnung Methadon als Schmerzmittel begleitend zur Krebstherapie verschreiben. Schließlich war Ende Juni 2017 der gesellschaftliche Druck so groß geworden, dass selbst die skeptischen Fachverbände dem an die Deutsche Krebshilfe weitergeleiteten Antrag für die Bewilligung von Fördergeldern zur Durchführung einer aussagekräftigen, auf mindestens drei Jahre angelegten klinischen Studie zustimmen mussten.
Wobei zunächst nur die mögliche Wirksamkeit von Methadon bei Hirntumoren untersucht werden soll. Darüber hat Friesen gemeinsam mit den beiden Hirntumor-Experten der Berliner Charité, Prof. Peter Vajkoczy und Dr. Martin Misch, im März eine Studie im Fachmagazin "Anticancer Research" veröffentlicht. Alle Beteiligten gehen davon aus, dass die Deutsche Krebshilfe spätestens im Herbst dieses Jahres grünes Licht für das ambitionierte Forschungsprojekt geben wird. Die Pharmaindustrie wird keinen Cent zur Finanzierung der Studie beitragen, ein Erfolg des spottbillig herstellbaren Methadons würde ihre hochlukrativen, sündhaft teuren Krebsmedikamente überflüssig machen. Eine Methadonbehandlung würde monatlich weniger als 20 Euro kosten, manche Krebstherapeutika schlagen dagegen mit 20.000 bis 25.000 Euro zu Buche.
Am 12. März hatte das ARD-Magazin "Plusminus" einen ersten Beitrag über Methadon als Krebsheilmittel ausgestrahlt. Und damit Hoffnungen bei vielen Patienten geweckt, weil Leidensgenossen in der Sendung von unglaublichen Erfolgen der Methadontherapie berichtet hatten. Schon 2008 hatte Claudia Friesen bei Laborversuchen festgestellt, dass Krebszellen innerhalb kürzester Zeit abstarben, wenn bei der Chemotherapie zusätzlich Methadon zum Einsatz gebracht wurde. Bei Tierversuchen konnte dieser Befund bestätigt werden. Eigentlich war ihre womöglich revolutionäre Entdeckung dem Zufall zu verdanken: "Wir wollten ursprünglich die molekularen Mechanismen von Opioiden weiter aufklären. Und zu unserer Verwunderung sind die Tumorzellen mit Methadon abgestorben." Wenig später veröffentlichte Friesen ihre eigentlich sensationellen Erkenntnisse, ohne damit größere Aufmerksamkeit zu erregen. Auch kein Pharmakonzern sollte sich bei ihr melden.
Abwehr der Krebszellen kann geschwächt werden
Doch Friesen ließ sich nicht entmutigen, fand Mitstreiter wie den HirntumorExperten Dr. Martin Misch von der Berliner Charité, der jüngst belegen konnte, dass bei seinen mit Methadon zusätzlich behandelten Patienten die Nebenwirkungen keineswegs gravierend waren, oder den Iserlohner Palliativmediziner Dr. Hans-Jörg Hilscher. Sie entwickelte gemeinsam mit ihm eine Methadon-Rezeptur speziell für Menschen, die sich gerade einer Krebstherapie unterzogen oder diese gerade abgeschlossen hatten. Wie sich herausstellen sollte, konnten selbst hoffnungslose Fälle mit Hilfe dieser Mixtur, immer in Kombination mit einer Chemotherapie, "Methadon als Wirkverstärker", so Friesen, geheilt werden. Die Daten von mehr als 350 medizinisch als hoffnungslos eingestuften Patienten mit allesamt positiven Krankheitsverläufen hat Friesen inzwischen in einer Datei gespeichert. Mit verblüffenden Belegen auf MRT-Bildern für deutlich verkleinerte oder gänzlich verschwundene Tumore oder Metastasen.
"Meistens sind es bettlägerige Patienten, die eigentlich gar nichts mehr machen können. Und wenn die auf Methadon umgestellt werden, können sie plötzlich wieder aufstehen, können wieder ihren Haushalt machen, viele können in den Urlaub fahren, also wieder ein normales Leben führen. Für viele ist allein die Lebensqualität es wert, Methadon einzusetzen." Mit diesem Statement sorgte Friesen am 21. Juni bei RTL im Rahmen eines ausführlichen Beitrags von "Stern TV" über Methadon-Erfolge in der Tumorbehandlung vor einem Millionenpublikum für großes Aufsehen. Wobei sie auch noch auf ein schon 2013 von ihr publiziertes Phänomen aufmerksam machte, nämlich wie genau die Methadon-Beigabe die Effektivität von Chemotherapeutika erheblich verstärken kann.
Methadon kann demzufolge die hartnäckige Abwehr der Krebszellen gegen Bestrahlung und andere Therapien schwächen oder gar stoppen. Und zwar indem es sich an spezielle Rezeptoren der Tumorzellen anheftet und diese veranlasst, durch Umlegung eines molekularen Schalters gewissermaßen ihre Schleusen zu öffnen, durch die das für die Tumorzelle tödliche Gift dann ungehindert eindringen kann. Dank Methadon wird der sofort einsetzende Pumpmechanismus zum Abstoßen des Zellgifts gestört, wodurch das Krebsmedikament seine Arbeit viel länger in der Zelle verrichten kann. Friesen: "Wir wollen Methadon als Unterstützer und Verstärker der konventionellen Chemotherapie in den klinischen Alltag einbringen. Methadon erhöht den Therapieerfolg signifikant, überwindet Resistenzen und greift gesunde Zellen nicht an. Ich kenne Patienten, bei denen ein Chemotherapeutikum nicht gewirkt hat. Erst als sie es mit Methadon bekommen haben, sprach es wieder an."
Claudia Friesen reagierte sehr erfreut über die Ankündigung der klinischen Studie. Allein schon weil diese nicht von der Pharmaindustrie unter entsprechend eigennützigen Vorgaben in Auftrag gegeben wurde. Was Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft und Chefarzt der Berliner Helios-Klinik für Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie, schon seit Langem ein Dorn im Auge ist: "Wir bedauern sehr, dass wir in all diesen Studien auf gesponserte, also von der Industrie finanzierte Studien zurückgreifen müssen. Ich denke, es würde für unsere Patienten, gerade für die Tumorpatienten, sehr segensreich sein, wenn wir mehr unabhängige Forschung hätten, weil wir dann Ergebnisse bekämen, die nicht vom pharmazeutischen Hersteller verzerrt sind."
Peter Lempert