Ein Café in der ehemaligen Aufbahrungshalle eines Friedhofs mutet im ersten Moment etwas sonderbar an. Doch das "Café Strauss" am Rand des "Friedrichswerderschen Friedhofs" zeigt, dass dies durchaus zusammenpasst. Die Gäste jedenfalls sind begeistert.
Der mannshohe Jugendstilengel hats gut. Er hat immer die Auslage der Vitrine im Blick. Sein einziges Problem: Er wird die Kuchen nie verzehren können, ist er doch aus Metall und kann sich keinen Schritt aus der Glashalle neben dem "Café Strauss" wegbewegen. Die Gäste auf der Terrasse oder im Inneren dagegen haben es deutlich besser. Nachdem sie einen der jeweils 30 Plätze drinnen oder draußen ergattert haben, können sie zwischen Torten und Schnittchen wählen und direkt bestellen. Vielleicht fällt der Blick der Gäste auf den Kaffeeröster, die Obstbrände in großen Glasballons oder auf rotummantelte Grablichter, die für 1,50 Euro verkauft werden. Dann gilt es nur noch, einen Moment unter den Arkaden und Sonnenschirmen oder unterm Kuppelgewölbe auf Kaffee und Kuchen zu warten.
Zum Beispiel auf die Schokoknuspertorte. "Die hilft bei schwerem Liebeskummer", sage ich angesichts der mehrstufigen Schokosahne unter üppigen, dunklen Schokoraspeln. Der "Knusper" aus kross gebackenen Crêpes und Haselnüssen ist, wie uns Betreiberin Olga Strauss verrät, in den dunklen Boden eingearbeitet. Eine Tasse vom frisch vor Ort gerösteten Kaffee, in einen weichen, aber kräftigen Cappuccino verwandelt, trägt ebenso ihren Teil zur Bewältigung von Kummer bei.
Der tägliche Kaffee ist für viele ein Ritual
Der Kaffee ist für so manchen tatsächlich ein Ritual. "Vor allem vormittags kommen viele Gäste, die erst zum Grab gehen und anschließend ihren Kaffee trinken und die Tageszeitung lesen", erzählt Olga Strauss. In dem Café am Rand des "Friedrichswerderschen Friedhofs" zeigt sich, dass der Tod dem Leben räumlich nah, das Leben aber umgekehrt ebenso in den Situationen des Abschiednehmens und Trauerns präsent ist. Grablichter im Regal, aber auch eine Hecke zollen diesem Umstand Rechnung. Im ersten Sommer 2013 trugen immer mehr Gäste Stühle auf die benachbarte Rasenfläche mit "Dellen". Sie waren verwundert, sich aber nicht im Klaren darüber, dass sie auf einer Grabfläche saßen. Ein Zaun wurde gesetzt, die Hecke gepflanzt. Seitdem sind die beiden Bereiche unaufdringlich voneinander getrennt. Man trägt den besonderen Gegebenheiten des Ortes Rechnung, Kuchen und Schnittchen schmecken jedoch genau so gut wie überall. Das müssen sie auch. Schließlich käme niemand allein wegen der "Friedhofsatmosphäre" mehrmals zum Kaffeetrinken. Die Begleiterin und ich bleiben deshalb auch ganz diesseitig im Torten-Rezensionsmodus. Eine Käse-Blaubeertorte kommt deutlich leichter daher als die schokoladige Schwester. "Tröstet nach dem Ende einer Sommerromanze", sagt die Begleiterin. Eine ordentliche Lage Heidelbeeren auf Käsemasse, Mürbeteig drunter. So schmeckt der Blues nach warmen Tagen, die gern für eine längere Zeit hätten vergnüglich sein können. Die Kaffee-Variante dazu ist der gut gekühlte "Iced Latte" ohne Zucker.
Auf einer Waldfruchttorte wiederum türmen sich die bunten Beeren auf hellem Biskuit und leichter Buttercreme. Sie flirten mit den gerösteten Mandelblättchen am Rand. Weiße Schokolade unterm Boden sorgt für die nötige Statik im Unterbau, erklärt Olga Strauss. "Die ist für Seminararbeitsschwänzerinnen, die gerade mal keine Lust auf ihre Arbeit haben", sagt die Begleiterin. Ob für die kleinen Ausflüchte oder gegen die großen alle Torten trösten ganz vorzüglich für 2,90 Euro pro Stück. Ein einfacher Cappuccino oder ein "Iced Latte" dazu kosten 2,40 oder 2,90 Euro.
In der um 1880 errichteten ehemaligen Aufbahrungshalle des Friedhofs mit der hohen Kuppelgewölbedecke lässt es sich auch an trüberen Tagen gut den üblichen Caféhausgeschäften nachgehen herumsitzen, sinnieren, lesen, arbeiten, brettspielen oder plaudern. Wer keine Lust auf Süßes hat, ist bei Laugenbrezeln oder Quiche gut aufgehoben. Oder bei den Roggenbrotschnittchen im traditionell wienerischen "Trez?niewski"-Stil, wie die Begleiterin sofort erfreut bemerkt. Wir legen die exakt auf Kante bestrichenen Scheiben stilecht mit einem Tortenheber auf unsere Teller. Wir dritteln sie danach dennoch herzlos, damit der Fotograf, die Begleiterin und ich von jeder der sechs Sorten probieren können. Getrocknete Tomaten mit Kräutern, Meerrettichcreme mit Lachs, Kapern und Dill sowie Thunfischcreme mit Radieschen liegen auf dem einen Silbertablett. Schnittchen-Runde zwei bietet Rucola-Walnuss-Pesto, Rote Bete mit Sonnenblumenkernen und Eiersalat als Aufstrich. Köstlich sind sie allesamt, für jeweils einen Euro eine handliche Grundlage für die herzhaften Momente. Einen "Pfiff", wie das dazugehörige "Achterl" Bier in Wien genannt wird, erhalten wir in Kreuzberg nicht. Wir könnten aber ein Rothaus "Tannenzäpfle" ordern. Für härtere Fälle gäbe es auch Birnen-, Zwetschgen- oder Mirabellenbrand oder einen Obstler. Sie kommen, ebenso wie Martin Strauss ursprünglich, aus den Obstanbaugebieten südlich von Stuttgart. Martin und Olga Strauss als Betreiber bieten nur das an, was sie selbst schätzen. In einem schrankhohen gläsernen Röster neben der Eingangstür gibts ein Extra-Erlebnis für Augen und Nase. "In einem eigenen Café wollte ich auf jeden Fall selbst rösten", erzählt Olga Strauss. Ihr Mann schenkte seiner Frau eine Reise durch die "Top 20 der Wiener Kaffeehäuser". Ohne die besucht zu haben, könne man doch kein Café aufmachen. Die beiden testeten zudem verschiedene Röster und entschieden sich für ihr Heißluftgerät. Ein Kilo helle Bohnen der Hausmischung aus 90 Prozent Arabica- und zehn Prozent Robusta-Kaffee kommt in den heißen Luftstrom hinein und 15 bis 20 Minuten später braun wieder heraus. "Robusta-Bohnen haben mehr Koffein", sagt Martin Strauss. "Bei uns gehen viele milchbasierte Kaffeegetränke raus, denen das guttut." "Single Origins", Ländersorten wie ein "Jamaica Blue Mountain" oder ein brasilianischer "Yellow Bourbon" werden auf Wunsch für die Gäste zum Mitnehmen schon einmal in Hundert-Gramm-Portionen geröstet. "Das ist richtig was für Espresso-Borgs", sagt die Begleiterin fasziniert.
Bewährte Kooperation mit einem Konditor
Martin Strauss ist akkurat in allem, was er tut ob bei der denkmalgerechten Café-Sanierung oder hinterm Tresen, weiß Olga Strauss: "Wenn man einen Architekten an seiner Seite hat, müssen sogar die Schnitte in der Torte präzise sein." Die Renovierung des Gebäudes natürlich ebenso. Sie benötigte ein Jahr Zeit und viel Handarbeit, bevor das Café im Mai 2013 eröffnete. Zweit-Fenster aus Holz für die Wärmedämmung, eine Toilette im ehemaligen Totenwächterraum, der Einbau einer Küche im Souterrain. Alles ist eben ein bisschen spezieller im "Café Strauss" die Gegebenheiten, Räume und Menschen. Martin Strauss befasste sich mit den diversen Gebäuden näher, als er in einem auf Denkmalschutz spezialisierten Architekturbüro arbeitete, das seinen Sitz auf dem Friedhof hatte.
Martin und Olga Strauss dachten für sich selbst das Thema "Café" und "Friedhof" zunächst nicht zusammen. "Ich habe erst einmal ein Jahr in einem kleinen Café im Prenzlauer Berg geübt, ob das für mich alles so funktioniert", sagt Olga Strauss. Irgendwann stand die Entscheidung, doch das Gebäude auf dem Friedhof zu mieten. Der Friedrichswerdersche ist einer von vier historischen Friedhöfen, die sich in einem parkähnlichen Verbund die Bergmannstraße entlangziehen. Der Geschäftsführer des Betreibers, Pfarrer Jürgen Quandt vom "Evangelischen Friedhofsverband Berlin Stadtmitte", unterstützte die Idee. Sie entspricht dem Verständnis des Verbandes, die Friedhöfe als städtische Kulturorte sowie als Stätten der Erholung und Besinnung zu erhalten. Vorbild für eine so spezielle Nutzung war sicherlich das "Café Finovo" auf dem St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg, das als erstes dieser Art 2006 in Berlin entstand.
"Einen Monat lang habe ich alles selbst gemacht", sagt Olga Strauss. Mit dem Selbstbacken war danach jedoch Schluss. Denn nach den ersten Presseberichten setzte ein ununterbrochener Gästestrom ein. "Wir arbeiten seither mit einem Konditor zusammen, der für uns an einem anderen Ort backt und mit uns gemeinsam neue Kuchen entwickelt." Im Service herrscht ebenfalls Kontinuität die meist langjährigen Mitarbeiterinnen, "unsere acht Persönlichkeiten", müssen eben auch mit Lebensgeschichten und besonderen Stimmungen und Situationen umgehen können. Ist Martin Strauss vor Ort, gibts die Infos zum Gebäude live dazu. Eine Demonstration der metallenen "original Low-Tech-Dachluken" von 1903 zur Lüftung der Glashalle. Sie ist die Wartehalle für die benachbarte Kapelle, die nach wie vor in Betrieb ist. So nutzen Trauergesellschaften das "Strauss" gern zum Kaffeetrinken nach der Beisetzung
"Das ist für uns auch wirtschaftlich, gerade in der dunklen Jahreszeit, nicht unwichtig", erzählt Martin Strauss. Denn neben hohen Denkmalschutzauflagen gilt auch: keine Außenwerbung und Öffnungszeiten nur zu denen des Friedhofs. Die Halle und das Café dürfen aber auch für passende Feiern, Lesungen und ähnliches genutzt werden.
Wir überlassen den Jugendstilengel nach einem Rundgang wieder der Gesellschaft seines Kollegen Jesus, der ebenfalls als Statue in der Glashalle steht. Und tun uns ganz diesseitig an unserem letzten Kuchenstück gütlich: Nuss-Käse-Karamell. "Harmonisch und für die Tage, an denen einfach alles gut ist", sagt die Begleiterin. Also für genauso einen wie dem unseres Besuches.