Erdogans Nazi-Vergleich: Warum Deeskalation richtig ist
Sind beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nun sämtliche Sicherungen durchgebrannt? Die erste Reaktion nach dem Nazi-Vergleich des Staatschefs lautet: Ja, Irrationalität und überschäumende Verachtung haben sich endgültig Bahn gebrochen. Erdogan hatte nach Absagen von Wahlkampf-Auftritten türkischer Minister in Deutschland den ungeheuren Satz gesagt: "Eure Praktiken machen keinen Unterschied zu den Nazi-Praktiken in der Vergangenheit."
Man kann mit gutem Grund annehmen, dass Erdogan von allen guten Geistern verlassen ist und ein Höchstmaß an Geschichtsvergessenheit an den Tag legt. Konzentrationslager, Gestapo, Rassenideologie und Kriegs-Fetischismus sind in dieser Kombination historisch einmalige Kennzeichen des Nationalsozialismus.
Aber das wäre ein billiger Triumph über die intellektuellen Tiefflüge des türkischen Präsidenten. Die Wahrheit ist: Der starke Mann vom Bosporus ist in einer Position der Schwäche aus mehreren Gründen. Erdogan will sich per Referendum am 16. April eine fast unbeschränkte Machtfülle zuschustern. Er sieht sich in den Fußstapfen des Staatsgründers Kemal Atatürk und möchte sozusagen als zweiter Republikgründer in die Geschichtsbücher eingehen. Doch die Umfragen in der Türkei sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Erdogan spürt, dass er die Volksabstimmung verlieren könnte. In Deutschland leben rund 1,4 Millionen stimmberechtigte türkischstämmige Bürger, von denen fast 70 Prozent pro Erdogan sind. Gut möglich, dass sie das Zünglein an der Waage spielen, wenn das Ergebnis knapp ausfallen würde.
Deshalb greift der Präsident tief in die Emotionenkiste und überspannt den Bogen. Er braucht ein Feindbild, muss polarisieren, um zu mobilisieren. Bei den Türken zwischen Berlin und Köln kommen die verbalen Muskelspiele und die Gesten des patriarchalischen Kümmerers aus Ankara an. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Integration in Deutschland mit seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht so reibungslos verlief, wie dies in den letzten Jahren den Anschein hatte. Offensichtlich haben viele Deutschtürken den Eindruck, hierzulande nicht voll akzeptiert zu sein oder zu kurz zu kommen. Deshalb die Anfälligkeit gegenüber den großspurigen Tönen Erdogans, der ihnen das Gefühl gibt, jemand zu sein.
Der nationale Rausch, den Erdogan entfacht, soll natürlich auch über wirtschaftliche Engpässe hinwegtrösten. Auch wegen der politischen Unsicherheit ist die türkische Lira abgestürzt, was die dringend benötigten Importe deutlich teurer macht und die Preise auf breiter Front treibt. Hinzu kommt, dass der Tourismus, eine der wichtigsten Einnahmequellen des Landes, am Boden liegt.
Auch in der Innen- und Außenpolitik verursacht Erdogan mehr Brände, als er Löschfahrzeuge zur Verfügung hat. Zu Hause sowie in Syrien und im Irak führt er einen gandenlosen Krieg gegen die Kurden. Gleichzeitig kämpft Ankara gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS). Im Inland fährt Erdogan eine Vernichtungs-Kampagne gegen die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Der 75-Jährige gilt als Drahtzieher des gescheiterten Putsches vom 15. Juli 2016. Die Entlassung von mehr als 120.000 Staatsbediensteten, die massenhafte Verhaftung von Richtern, Polizisten, Lehrern, Offizieren und Journalisten zeugt von dem Gülen-fixierten Verfolgungswahn Erdogans.
All dies sollte jedoch kein Grund sein, türkischen Politikern im Referendums-Wahlkampf den Auftritt in Deutschland zu verbieten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) plädieren zu recht dafür, kühlen Kopf zu bewahren und die Lage zu deeskalieren. "Solche deplatzierten Äußerungen kann man ernsthaft eigentlich gar nicht kommentieren", distanziert sich Merkel von Erdogans Nazi-Vergleich. "Ich glaube, unsere Aufgabe ist es, das wieder zu normalisieren", betont Gabriel.
Die Sprache der beiden ist kühl, klar und verzichtet auf jede Polemik. Die Demokratie in Deutschland ist stark und belastungsfähig. Sie hält die Reden von Erdogan & Co. aus. Gleichzeitig sollten aber auch Vertreter der türkischen Opposition die Möglichkeit haben, hierzulande für ihre Position zu werben. Der in Deutschland so gern gehegte moralische Rigorismus Auftrittsverbot! hilft nicht weiter.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
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Kühlen Kopf bewahren
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