Unter US-Präsident Donald Trump muss sich die EU neu erfinden
Die Szene ging um die Welt es war eine machtvolle Demonstration für Freiheit, Solidarität und Schutz in der Not. Am 26. Juni 1963 sprach US-Präsident John F. Kennedy vor dem Rathaus Schöneberg in West-Berlin den Satz, der sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben hat: "Ich bin ein Berliner." Der Besuch fand anlässlich des 15. Jahrestags der Berliner Luftbrücke statt. Die Botschaft war klar: Amerika würde West-Berlin keinesfalls dem sowjetischen Kommunismus überlassen. Viele Tausend Menschen in der geteilten Stadt dankten Kennedy mit frenetischem Applaus, dessen Echo in der gesamten Bundesrepublik nachhallte.
Die transatlantischen Beziehungen gingen seitdem durch Höhen und Tiefen, Dissonanzen und Missverständnisse. Doch für die große Mehrheit der Bevölkerung gab es keinen Zweifel: Die USA und Europa waren durch das Bekenntnis zu demokratischen Institutionen, Rechtsstaatlichkeit und eine marktwirtschaftliche Ordnung verbunden. Es handelt sich um eine westliche Werte-Gemeinschaft gegen den sozialistischen Block im Osten. Auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR blieb die europäisch-amerikanische Gemeinschaft intakt. Das Verhältnis war weniger ideologisch aufgeladen als früher. Doch das Selbstverständnis politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Freiheit bestand weiter als Gegenmodell zu autokratischen Regimen und Diktaturen.
Diese Welt des Westens ist Geschichte. Mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump gelten die traditionellen Koordinaten nicht mehr. Wenige Tage vor seiner Amtseinführung beerdigte Trump in einem Interview mit der "Bild" und der britischen "Times" alte Gewissheiten, Partnerschaften und Bündnisse. Er übte scharfe Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel, der EU und der Nato.
"Ich hatte das Gefühl, sie ist großartig, eine großartige Anführerin", packt Trump seine Breitseite gegen Merkel in ein vergiftetes Lob. Um dann mit voller Wucht gegen ihre Flüchtlingspolitik zu schießen: "Aber ich finde, sie hat einen äußerst katastrophalen Fehler gemacht, und zwar, all diese Illegalen ins Land zu lassen." Der Unterschied zwischen abgelehnten Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen ist Trump ebenso fremd wie diplomatische Geschliffenheit. Er gefällt sich als Provokateur, Polterer und Zerstörer von bewährten poltischen Gepflogenheiten.
Auch sein rhetorischer Sturmlauf gegen die EU beginnt mit einem nicht ernst gemeinten Kompliment: "Ich fühle mich Europa sehr verbunden." In Wirklichkeit hält der bisherige Immobilien-Unternehmer die Gemeinschaft für ein auslaufendes Geschäftsmodell, das Amerika schade. Die Union sei zum Teil gegründet worden, um die USA "im Handel zu schlagen". Dass die EU aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs heraus errichtet wurde, passt nicht in den Business-Horizont Trumps.
"Im Grunde genommen ist die Europäische Union ein Mittel zum Zweck für Deutschland", stichelt er weiter. "Deswegen fand ich, dass es klug von Großbritannien war auszutreten." Weitere Staaten würden die EU verlassen, prognostiziert Trump, fast im Stile eines AfD-Politikers. Für den neuen US-Präsident ist Politik ein großer Deal. Das oberste Ziel: der maximale Vorteil für Amerika. Eine schwache EU passt in dieses Bild.
Auch die Nato hat unter Trump nichts mehr zu tun mit dem westlichen Verteidigungsbündnis vergangener Tage. Die Allianz sei "obsolet", also veraltet, stänkert der Präsident. Er macht das an zwei Punkten fest: Sie engagiere sich nicht genügend im Kampf gegen den Terror. Zudem zahlten nur fünf der 28 Nato-Mitglieder die vereinbarten zwei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts in das Verteidigungs-Budget. Der Macht- und Profit-Fetischist Trump baut eine Drohkulisse auf, um die Nato in seinem Sinne umzubiegen.
In Europa sollte sich niemand mehr Illusionen machen: Trump wird sich nicht ändern. Für die EU muss dies ein Weckruf sein. Die Zeit der unerquicklichen Nabelschau und der selbstzerstörerischen Kleinstaaterei ist vorbei. Entweder die Union ergreift die Chance und definiert sich als politische und wirtschaftliche Macht sowie als Wertegemeinschaft neu. Oder sie wird zerrieben zwischen dem nationalistischen Staatskapitalismus Trumpscher Prägung und den autokratischen Großmacht-Ambitionen von Putin-Russland.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der "Saarbrücker Zeitung", arbeitete als Washingtoner Bürochef des "Handelsblatts", später als Nahost-Korrespondent für die "Financial Times Deutschland" in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
POLITIK
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Nahaufnahme: Das Ende des Westens
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