Gegen die Krisenkanzlerin findet Martin Schulz kein Rezept
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz kann einem fast ein bisschen leidtun. Im Januar wurde er als neuer Parteichef der Sozialdemokraten nominiert, im März mit einem fulminanten 100-Prozent-Ergebnis gewählt. Die in tiefer Lethargie gefangenen Genossen hatten plötzlich einen Heilsbringer, der mit messianischen Erwartungen überfrachtet wurde. Die Umfragen schossen nach oben. Auf einmal befand sich die SPD auf Gleichstand mit der CDU/CSU und lag zeitweise sogar vorn. Die Stimmung an der Basis explodierte.
Schulz musste sich die Augen reiben. Er lieferte zum Aufschwung seiner Partei nicht viel mehr als eine politische Tellerwäscherlegende und Wortgeklingel. Der Schulabbrecher, der im Alkohol versank, die Kurve kriegte und anschließend Brüssel rockte. Eine Bilderbuch-Karriere. Dann kam die Erzählung vom Prediger der sozialen Gerechtigkeit, der die Republik mit Vokabeln wie "Würde" und "Respekt" neu vermessen wollte.
Wenn man Schulz einen Fehler ankreiden will, dann den, dass er den Wirbel um seine Person für bare Münze nahm und zu wenig hinterfragte. Er ließ sich von der Faszination an sich selbst einlullen. Es folgten Arroganz und Hybris. Beim Auftakt zur nordrhein-westfälischen Landtagswahl Anfang April in Essen tönte er: "Wenn Hannelore in NRW gewinnt, werde ich Bundeskanzler!" Die SPD-Landesvorsitzende und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft fuhr jedoch am 14. Mai das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Partei ein. Und Schulz stand als begossener Pudel und Großmaul da. Spötter drehten die Logik des Satzes einfach um: Wenn Hannelore verliert, rast Schulz am Kanzleramt vorbei.
Natürlich sind Landtagswahlen Landtagswahlen, die in erster Linie von regionalen Themen bestimmt werden. Doch der bundespolitische Einfluss spielt immer eine Rolle. Und wenn die Partei des Kanzlerkandidaten erst den Urnengang im Saarland, dann den in Schleswig-Holstein und schließlich den in der sozialdemokratischen Herzkammer Nordrhein-Westfalen vergeigt, ist die Frage erlaubt: Wo bleibt der Schulz-Effekt? Zumal um den ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten der Mythos des Alleskönners verbreitet wurde. Aus dem Hype um den vermeintlichen Wundermann war plötzlich die Luft raus.
Der Entzauberung von Schulz liegen mehrere Ursachen zugrunde. Das Generalthema soziale Gerechtigkeit trifft offenbar nicht so den Nerv in der Bevölkerung, wie sich die Partei-Strategen dies erhofft hatten. Nach einer repräsentativen Umfrage sind 86 Prozent der Deutschen mit ihrer wirtschaftlichen Lage zufrieden. Hinzu kommt, dass der SPD-Kanzlerkandidat bislang programmatisch vage blieb und auf der politischen Bühne zu wenig präsent war.
Das kann von Angela Merkel nicht gesagt werden. Die Kanzlerin bespielt das internationale Parkett wie lange nicht. Sie mahnt im sunnitischen Königreich Saudi-Arabien, wo die Todesstrafe und öffentliche Auspeitschungen an der Tagesordnung sind, unverblümt Menschenrechte an. Sie redet dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ins Gewissen, im Ukraine-Konflikt eine Verhandlungslösung zu suchen. Beim G7-Gipfel in Sizilien Ende Mai und beim G20-Gipfel in Hamburg Anfang Juli wird sie als gewichtige Vertreterin der westlichen Wertegemeinschaft auftreten.
In einer Zeit der weltpolitischen Turbulenzen, in der alte Gewissheiten nicht mehr gelten, ist Merkel eine berechenbare Größe und ein Sicherheitsfaktor. US-Präsident Donald Trump tritt sämtliche demokratischen Prinzipien, die Amerika groß gemacht haben, mit Füßen. Kremlchef Putin und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan sind die Galionsfiguren einer neuen Ära des Autokratismus. Das ist der Kontext, in dem Merkel vielleicht langweilig rüberkommt, aber dafür Verlässlichkeit ausstrahlt. Ihr strategischer Fehler vom September 2015, als sie auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise Hunderttausende Migranten ohne EU-weite Abstimmung ins Land ließ, wurde durch den Deal zwischen der EU und der Türkei korrigiert.
Vor diesem Hintergrund muss sich die SPD, muss sich Schulz neu erfinden. Die Partei versucht derzeit hektisch, sich dem neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron anzudienen, indem sie dessen Ideen zu einer vertieften und teuren Integration der Eurozone kopiert. Das zeugt eher von Nervosität und Aktionismus. Zu Ende gedacht ist es jedenfalls nicht.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
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