Kremlchef Wladimir Putin hat für Syrien eine Strategie der Westen nicht
Schreiende Kinder, die aus dem Schutt von Aleppo geborgen werden, Bombenhagel auf Krankenhäuser. Dazu eine erbarmungslos voranschreitende syrische Militärmaschinerie, durch russische Luftschläge unterstützt. Wie viele dieser Bilder kann die Öffentlichkeit im Westen ertragen? Wie viel Ohnmacht ist zumutbar? Gibt es irgendwann einen Srebrenica-Moment wie im Bosnienkrieg Mitte der 90er-Jahre, als sich die Nato nach den schrecklichen Fotos von Massengräbern zu einer Intervention durchrang?
Von einer großflächigen Militäraktion in Syrien ist der Westen weit entfernt. Doch in Berlin und Brüssel mehren sich die Augenblicke, in denen der verzweifelte Ruf nach Konsequenzen laut wird. "Eine Folgen- und Sanktionslosigkeit schwerster Kriegsverbrechen wäre ein Skandal", kritisiert der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU). "Wir müssen Russland weiter unter Druck setzen mit Wirtschaftssanktionen", verlangt der CDU-Europapolitiker Elmar Brok. Auch die Grünen im Bundestag fordern eine härtere Gangart gegenüber Moskau.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zwar Verständnis für die Empörung, setzt aber auf einen Ausgleich mit der Macht im Osten. "Ich kann auch hier nur an Russland appellieren, Russland hat viel Einfluss auf Assad: Wir müssen dieses grauenhafte Verbrechen so schnell wie möglich beenden", so Merkel. Noch mehr auf die Bremse tritt die SPD. Für sie ist der Dialog mit Moskau unverzichtbar. Sie will Russland locken: Schrittweiser Abbau von Sanktionen für Entgegenkommen, lautet die Devise.
Gelegentliche verbale Breitseiten, Mahnungen, Wünsche. Eine Strategie gegenüber Moskau hat der Westen aber nicht. Russlands Präsident Wladimir Putin verfügt hingegen über eine klare Marschroute. Er will durch eine Politik der eisernen Faust Fakten schaffen. Er rüstet Syriens Machthaber Baschar al-Assad auf und aus.
An einem demokratischen Dialog der verschiedenen Gruppierungen zur Bildung einer Übergangsregierung, die über Assad hinausweist, hatte Putin nie ernsthaft Interesse. Ihm ging es stets um das geopolitische Schachspiel: die Demütigungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vergessen machen, die größere Supermacht Amerika in die Schranken weisen, als Weltmacht im Nahen Osten die Regeln diktieren. Putins Kalkül beruht auf zwei Voraussetzungen. Erstens, US-Präsident Barack Obama scheut eine größere Militäroperation in Syrien. Dessen Augenmerk gilt dem breiten Rückzug nach den teuren Kriegen in Afghanistan und im Irak.
Das entstandene Machtvakuum will der Kremlchef maximal ausnutzen. Darüber hinaus spekuliert er auf die derzeitige Schwäche Amerikas und Europas. Die USA wählen am 8. November einen neuen Präsidenten, der erst Ende Januar 2017 ins Amt eingeführt wird. Bis dahin liegt Washingtons außenpolitische Handlungsfähigkeit praktisch auf Eis. Frankreich kürt im kommenden Frühjahr einen neuen Staatschef, und in Deutschland finden im Herbst Bundestagswahlen statt.
Putin greift in seinen vielfach erprobten machtpolitischen Instrumentenkasten. Mal ist es die nackte Provokation, mal die dreiste Einschüchterung, mal der plötzliche Überraschungseffekt: Der russische Präsident liebt es, den Westen auf dem falschen Fuß zu erwischen und unberechenbar zu bleiben.
Neueste Kostprobe: Moskau erwäge die Reaktivierung von Militärstützpunkten auf Kuba und in Vietnam, sagt der Vize-Verteidigungsminister Nikolai Pankow. Eine Mischung aus Provokation und Einschüchterung ist der brutale Angriff auf einen UN-Hilfskonvoi am 19. September. Russland flankierte die Operation, an der es nach westlicher Einschätzung zumindest mitbeteiligt war, mit Propaganda-Nebelkerzen wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Erst hieß es, ein Brand und keine Bombardierung sei die Ursache. Danach wurde die Version verbreitet, ein Mörser auf einem Begleitfahrzeug von islamistischen Terroristen habe die Lastwagen beschossen. Zum Schluss kam der Vorwurf, bewaffnete US-Kampfdrohnen steckten hinter dem Angriff.
Welchen Zug Moskau auch immer unternommen hat: Der Westen sah sich überrumpelt. Auch der Beginn der russischen Luftangriffe in Syrien am 30. September 2015 kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wenige Tage zuvor hatte Putin auf der UN-Vollversammlung noch das Hohelied der Diplomatie angestimmt.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
POLITIK
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Nahaufnahme: Kalkulierte Provokationen
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