Das Jahr 2016 war turbulent 2017 wird vielleicht noch heftiger
Wir leben in Zeiten, in denen das Undenkbare denkbar wird. Wer hätte jemals für möglich gehalten, dass ein US-Präsident den Austritt aus der Nato ernsthaft in Erwägung zieht? Oder einen geradezu peinlichen Schmusekurs mit Russland ankündigt trotz Krim-Annexion, trotz des Bombenhagels auf Aleppo? Es ist 2016 passiert, dank Donald Trump. Wer hätte jemals für möglich gehalten, dass ein EU-Mitglied die Staatengemeinschaft mit einem Paukenschlag verlässt? Es ist 2016 passiert, dank des Brexit-Votums der Briten. Wer hätte jemals gedacht, dass die Außenseiter-Truppe AfD in Landtagswahlen auf den normalerweise für Volksparteien reservierten Platz zwei springt? Es ist 2016 passiert, in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg Vorpommern.
Die traditionellen Gesetze der politischen Logik wurden im vergangenen Jahr aufgehoben. Die Erwartungen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen früherer Tage sind passé.
Die Rechtspopulismus-Wellen, die über die USA, Großbritannien und über Teile Deutschlands geschwappt sind, haben immerhin ein paar Gemeinsamkeiten. Dahinter steckt zum einen eine Misstrauenserklärung an die etablierte Politik.
An erster Stelle steht die Kritik an einem unkontrollierten Ansturm von Armutsflüchtlingen. Bei Trump sind es die illegal nach Amerika gekommenen Mexikaner, bei den Briten die polnischen Einwanderer, bei der AfD die Migranten aus muslimischen Ländern. Die Populisten führen keine argumentative Debatte. Sie jonglieren mit Stimmungen und schüren Ressentiments. Tenor: Die "Fremden" wollen der einheimischen Bevölkerung etwas wegnehmen, den Sozialstaat plündern.
Derlei Ängste verfangen vor allem bei Arbeitern und Arbeitslosen, aber auch bei Teilen der Mittelklasse, die den sozialen Abstieg fürchten. Sie sind durch die Folgen von Globalisierung und Digitalisierung verunsichert. Hier grassiert die Sorge vor Billiglöhnen und Arbeitsplatzabbau. Die Antwort der Populisten heißt Nationalismus, nach dem Motto: das eigene Land zuerst. Das vereint Donald Trump mit der britischen Premierministerin Theresa May, die sich als Umsetzerin der Brexit-Bewegung begreift, und der AfD.
2017 könnten sich die Tendenzen zum Rechtspopulismus in Europa noch weiter verstärken. Im März wählen die Niederländer ein neues Parlament. In den derzeitigen Umfragen liegt Geert Wilders mit seiner am rechten Rand positionierten Partei für die Freiheit vorn. Zwar haben bislang alle anderen Kräfte eine Koalition mit Wilders abgelehnt. Doch wenn die Fleischtöpfe der Macht und einflussreiche Ministerposten locken, könnte sich das ändern. Die Niederlande, bislang ein wichtiger Stabilitätsanker des westlichen Kerneuropas, würden dann in unsichere Gewässer abdriften.
Im Frühjahr steht der EU eine existenzielle Herausforderung bevor. Ende April und Anfang Mai finden die zwei Durchgänge der französischen Präsidentschaftswahlen statt. Die sich bürgerlich gebende Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National (FN) hat gute Chancen, in die Stichwahl zu kommen. Dort trifft sie wahrscheinlich auf den neuen Star der Konservativen, François Fillon.
Der 62-Jährige tritt mit dem Versprechen an, Frankreich nach Jahren der Dauerkrise aus dem wirtschaftlichen Schlamassel zu ziehen. Die entscheidende Frage ist: Sind die Franzosen bereit, Fillons rabiate Reformvorschläge wie Ausdünnung des öffentlichen Dienstes, Verlängerung der Arbeitszeiten und höheres Renteneintrittsalter zu schlucken? Oder ist das Grundgefühl einer Abschottung von Ausländern und von mehr nationalstaatlicher Kompetenz außerhalb der EU stärker? Würde Le Pen triumphieren, wäre dies das Ende der Europäischen Union in ihrer heutigen Form. Der Kontinent würde sich in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht neu sortieren.
Bei der Bundestagswahl im September 2017 ist zwar kein Durchmarsch der AfD bis ins Kabinett zu erwarten. Doch die Landtagswahlergebnisse in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern, die der Partei jeweils mehr als 20 Prozent einbrachten, zeugen von einem großen Potenzial an Protestwählern.
Sollten die Wahlen im kommenden Jahr im zeitlichen Zusammenhang mit unerwarteten Ereignissen wie dem Lkw-Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt stehen, kann eine völlig neue Dynamik entstehen. Europa und der Welt stehen unruhige Zeiten bevor.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
POLITIK
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Nahaufnahme: Unruhige Zeiten
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