Die EU muss sich auf ihren Kern besinnen, um zu überleben
Am 25. März will sich die Europäische Union feiern. "60 Jahre Römische Verträge", steht auf der Geburtstagstorte. Die Spitzenvertreter der EU-Staats- und Regierungschefs möchten die Gemeinschaft bei einem Gipfel in der italienischen Hauptstadt hochleben lassen. Ein Prosit auf den Polit-Club, der Butterberge genauso überstanden hat wie Milchseen oder Griechenland-Krisen.
Das Problem ist nur, dass es für diese Jubiläumsbesoffenheit überhaupt keinen Anlass gibt. Wer gedacht hätte, dass die EU nach dem Brexit und dem heraufziehenden Protektionismus-Gewitter von US-Präsident Donald Trump zusammenrückt, sieht sich getäuscht.
Das polnische Obstruktions-Manöver bei der Wiederwahl von EU-Ratspräsident Donald Tusk hat gezeigt, wie es um den Teamgeist steht. Die Regierung in Warschau wollte den Polen Tusk aus einem billigen innenpolitischen Kalkül heraus verhindern. Ihr Horror-Szenario: Sollte der europafreundliche Ratspräsident nach zwei erfolgreichen Amtsperioden nach Polen zurückkehren, wäre er eine Gefahr für die nationalkonservative Riege. Ministerpräsidentin Beata Szydlo und Jaroslaw Kaczynski, Chef der PiS-Partei und mächtige graue Eminenz, hätten dann eine ernsthafte Konkurrenz. Aus diesem Grund fuhr Warschau auf Geisterfahrerkurs: Von dort kam die einzige Gegenstimme gegen Tusk, die restlichen 26 votierten mit Ja.
Doch das ist noch nicht alles. Nach der krachenden Niederlage wetterte die polnische Regierung gegen die "deutsche Dominanz" in der EU. Berlin habe kleinere Staaten unter Druck gesetzt, um Tusk durchzudrücken. Sogar von "Betrug" war die Rede. Eine der vielen Verschwörungstheorien, die derzeit Konjunktur haben. Außenminister Witold Waszczykowski stieß finstere Drohungen aus: "Man muss scharfe Zähne haben und in der Lage sein, negativ vorzugehen." Eine dunkle Andeutung, dass Polen künftig in Brüssel blockieren will.
Warschau befindet sich auf Kollisionskurs. Die Regierung hat seit 2015 stramm autoritäre Züge angenommen. Die Kompetenzen des Verfassungsgerichts wurden so beschnitten, dass die Richter die Exekutive nicht mehr ordentlich kontrollieren können. Zudem ernennen die Behörden die Chefs von öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosendern ein Schlag gegen die Pressefreiheit.
Die traurige Wahrheit ist: Europa ist vom Spaltpilz befallen. Die polnische Solonummer in der Causa Tusk mag derzeit am spektakulärsten sein. Doch auch andere Länder haben separatistische Tendenzen. So wollen die osteuropäischen Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen beim EU-Gipfel Ende März in Rom ein eigenes Papier vorlegen. Ihr Ziel ist ein minimalistisches Europa. Eckpfeiler: freier Binnenmarkt, verschärfte Grenzkontrollen, mehr Macht den nationalen Parlamenten.
Es ist ein Gegenmodell zu dem, was die Gründerstaaten der EU anstreben. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel hat in den beiden letzten Wochen Antrittsbesuche zwischen Österreich, Italien und dem Baltikum gemacht. Seine Botschaft: Wenn Europa von Amerika, Russland oder China ernstgenommen werden will, muss es mit einer Stimme sprechen. Das heißt mehr Zusammenarbeit bei Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Wachstum und Beschäftigung, beim Kampf gegen Terror und organisierte Kriminalität. Das alles auf der Basis "westlicher" Werte wie Presse- und Versammlungsfreiheit.
Das ist die Matrix, die in Westeuropa, aber auch in den baltischen Staaten gilt. So hat das gerade einmal 1,3 Millionen Einwohner zählende Estland aus Solidarität mit Brüssel eine Delegation in griechische Flüchtlingslager geschickt, um 80 Migranten dauerhaft am Nordostzipfel Europas anzusiedeln. Solche Gesten sucht man in Budapest oder Bratislava vergeblich.
Da die Unterschiede in der EU so gravierend sind, muss sich die Gemeinschaft auf ihren Kern besinnen. Wer bei der verstärkten Kooperation in wichtigen Teilbereichen mitmachen will, soll dies tun. Wem das zu weit geht, der kann sich hinten einreihen. Mit der Möglichkeit, wieder nach vorn zu stoßen.
Die EU braucht zwei Geschwindigkeiten. Das ist mittel- und langfristig mit einem Umbau der Struktur verbunden. Wer mehr Verpflichtungen übernimmt, hat mehr Rechte. Je eher Europa neu definiert wird, desto besser. Es wäre gut, wenn der Gipfel in Rom die ersten Anstöße hierzu geben könnte.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
POLITIK
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Spaltpilz-Europa
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