Martin Schulz setzt seine Partei unter Strom kann er auch liefern?
Einhundert Prozent wow! Der neue SPD-Chef Martin Schulz hat ein besseres Wahlergebnis erzielt als alle seine Vorgänger in der geschichtsträchtigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Selbst die staatssozialistischen Genossen Erich Honecker und Leonid Breschnew, die seinerzeit die SED beziehungsweise die KPdSU anführten, erreichten nicht die Maximal-Punktzahl.
Der Vergleich hinkt natürlich. Der Schulz-Superlativ kommt bei der SPD aus tiefster Seele. Der frischgebackene Frontmann und Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten wurde aus freien Stücken auf den Schild gehoben. Die 90-Prozent-plus-Resultate von Honecker & Co. waren hingegen von oben gelenkt.
Die SPD ist euphorisiert wie vielleicht seit den Tagen von Willy Brandt nicht mehr. Hoffnung, Leidenschaft und der süßliche Geruch der politischen Gestaltungsmacht haben die Parteibasis ergriffen. Plötzlich klettert die lange Zeit gedemütigte Partei in den Umfragen auf über 30 Prozent. Die Sozialdemokraten befinden sich in einem Höhenrausch. Merkel? War gestern. Schulz ist die große Projektionsfläche, der umjubelte Dirigent für das Wunschkonzert der 1.000 Möglichkeiten.
Die Faszination des 61-Jährigen hat mehrere Ursachen. Die SPD ist seit dem Abgang von Bundeskanzler Gerhard Schröder 2005 durch tiefe Täler gegangen. Sie hat der seit 2013 andauernden Großen Koalition zwar inhaltlich ihren Stempel aufgedrückt Mindestlohn, abschlagsfreie Rente mit 63 oder Frauenquote , doch in der Öffentlichkeit wurde die Partei nur als Anhängsel der Union und der lange Zeit unverwundbar erscheinenden Kanzlerin Angela Merkel wahrgenommen. Die SPD konnte machen, was sie wollte: Bei den Wahlen klebte sie nahe der 20-Prozent-Marke. Es war wie ein Fluch.
Zum Teil hing dies damit zusammen, dass der SPD-Vorsitzende, Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel zwar brillante Reden halten konnte. Doch er befand sich in einer fatalen Zwitter-Position: Einerseits galt er als Mitglied der Merkel-Regierung. Andererseits war er Chef einer Partei im Wartestand, die selbst eines Tages den Kanzler stellen wollte. Gabriel musste Verlässlichkeit und Bissigkeit zugleich verkörpern das ging zu Lasten des Profils. Hinzu kam, dass er in der SPD nie richtig geliebt wurde.
Bei Schulz ist dies völlig anders. Er kann von Merkel weder freundlich umarmt noch in den Schwitzkasten genommen werden. Der SPD-Chef ist die neue Allzweckwaffe, die von außen auf die bundespolitische Bühne stürmt. Dass er als Präsident des EU-Parlaments jahrelang zum Brüsseler Establishment gehörte, schadet ihm erstaunlicherweise nicht. Er ist das frische Gesicht, das die Republik aufmischt.
Dabei hilft ihm seine Biografie. Ein Schulabbrecher, der dem Alkohol verfällt, am Ende aber doch die Kurve kriegt und zu einem der profiliertesten Europapolitiker aufsteigt: Eine bessere sozialdemokratische Tellerwäscherlegende gibt es kaum. Ein überzeugendes Narrativ, nennt man das Neudeutsch. Kurz: eine Geschichte, die zieht. Teile der sozialdemokratischen Stamm-Klientel, die durch Schröders "Agenda 2010" verprellt wurden, hat Schulz mit einem geschickten symbolpolitischen Schachzug zurückgewonnen. Langzeitsarbeitslose sollen bis zu vier Jahre dem Hartz-IV-Absturz entkommen, wenn sie sich weiterbilden. Auf einmal öffnet sich die Tür für eine rot-rot-grüne Koalition unter Führung der SPD sperrangelweit.
Dieser Enthusiasmus, der nicht nur das SPD-Publikum mitreißt, ist für Merkel gefährlich. Die Kanzlerin erscheint seit ihrem Umfrage-Knick im Zuge der Flüchtlingskrise müde, ausgezehrt und kraftlos. Schulz kommt dagegen als Gute-Laune-Paket mit neuen Perspektiven rüber.
Gleichwohl hat der Schulz-Rausch seine Tücken. Der SPD-Vorsitzende wird mit fast messianischen Erwartungen überfrachtet. Auch beim ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama glaubte man zu Beginn fast, dass er über Wasser laufen kann. Am Ende folgte tiefe Ernüchterung. Programmatisch hat Schulz außer der geplanten Hartz-IV-Korrektur nicht viel geboten. Seine Vorstellungen bei Steuern und Rente sind noch reichlich nebulös, dafür gibt es jede Menge Gerechtigkeitslyrik. Hier muss er erst noch liefern. Ein erster Test für den Schulz-Effekt an der Wahlurne zeigt sich an diesem Sonntag im Saarland.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
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