Die Generation 60plus kann in Zukunft die Wahlen entscheiden. Bei der Landtagswahl in NRW und der Bundestagswahl im Herbst stellen sie die größte Wählergruppe. Eine Herausforderung für die Parteien mit Vorteilen für die CDU.
Zuerst die gute Botschaft an die jungen Wähler unter 60 Jahren: Noch ist nicht alles an die "Ü 60" verloren. Wenn, ja wenn, alle Wahlberechtigten tatsächlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen würden, dann wären die über Sechzigjährigen nur mit 36 Prozent vertreten und die Jüngeren würden bestimmen, wo es langgeht. Nun kommt aber die Wahl-Statistik ins Spiel. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte bei Bundestagswahlen besagt: Wenn 36 Prozent der Wähler über 60 sind, macht das aufgrund der Wahlbeteiligung nachher in der Wahlurne fast die Hälfte der Stimmzettel aus. Schuld sind die Jungen, die eben eher zurückhaltender von ihrem Bürgerrecht Gebrauch machen als die Alten. Das zeigen die statistischen Rahmendaten, die unter anderem vom Gesamtverband der Versicherungswirtschaft stammen. Überraschend ist das nicht: Denn der demografische Wandel, der in diesem Jahr erstmals spürbar nicht nur die der Bundestags-, sondern auch die Landtagswahlen erreicht, wird in spätestens zehn Jahren auch die Rentenkassen betreffen. Aber das ist ein anders Thema.
Als Erster hat in diesem Wahlkampfjahr SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz die Jagd nach den Wählern 60plus eröffnet und unter dem Siegel der Lebensgerechtigkeit das "Arbeitslosengeld Q" auf den Plan gerufen Q steht für Qualifikation. Dabei beruft sich Schulz in seiner Vorwahlkampftour immer wieder gern auf die 50- oder 58-Jährigen, denen Arbeitslosigkeit droht, und die nun weiterqualifiziert werden müssen, bis zu vier Jahre. Auch das "Schonvermögen" soll erhöht werden: Falls jemand doch auf Hartz IV gehen muss, dürfte er mehr Angespartes behalten als bislang.
Doch nicht nur die Sozialdemokraten neigen zu solchen Wahlgeschenken an die Generation Silber. Auch die Union hat dies mit der Mütterrente bereits unter Beweis gestellt. Deren finanzielle Auswirkungen auf die Rentenkasse können momentan aber nur kaschiert werden, weil Deutschland derzeit einen ungewöhnlich hohen Beschäftigungsstand hat und die Kassen mit Beiträgen geradezu geflutet werden.
Auch parteiintern ziehen die Konservativen mit ihrer Senioren-Union mit. Während andere Parteien unter Mitgliederschwund leiden, muss sich deren Chef Otto Wulff um seine ergraute Unionsgarde keinen Kopf machen, denn sie wird dank demografischer Entwicklung in den kommenden Jahren eher wachsen.
Entstanden ist die Senioren-Union 1988 nach den fulminanten Wahlerfolgen der Grauen Panther mit Trude Unruh an der Spitze. Weil Unruhs Stimmenzuwachs vor allem auf Kosten der Union über die Bühne ging, rief der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler zusammen mit Peter Radunski das Projekt für die über 60-jährigen Unionswähler ins Leben. Weitsichtig schon damals, denn "die Älteren werden in absehbarer Zeit wahlentscheidend sein, und es wird schwierig, im Wahlkampf Jung und Alt gleichermaßen zu bedienen". So Geißlers Ansatz zur Gründung einer eigenen Parteiorganisation unter dem Dach der CDU.
Derzeit hat die Senioren-Union knapp 55.000 Mitglieder, die Mutterpartei liegt bei etwas über 430.000 Mitgliedern. Allerdings wirbt die Senioren-Union massiv um ihre Klientel, weil ältere CDU-Mitglieder nicht automatisch "durchgereicht" werden.
Seit gut 15 Jahren ist Professor Dr. Otto Wulff jetzt Bundesvorsitzender der Senioren-Union, und längst gilt der 84-jährige Pensionär aus Hennen in Westfalen in der Berliner Parteizentrale als kleiner Machtfaktor.
Die Wahl am 14. Mai in seinem Bundesland ist für den Juristen sozusagen ein Heimspiel und gleichzeitig Generalprobe für die Bundestagswahl. Denn demografisch ist NRW mit seinen 17 Millionen Einwohnern gut vergleichbar mit dem Rest der Republik.
Wahlgeschenke an Senioren auf Kosten der Jüngeren
Für Wulff ist eines sicher: "Kann die Union an Rhein und Ruhr die Wähler über 60 Jahre aktivieren, hat CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet eine realistische Chance gegen Amtsinhaberin Hannelore Kraft." Allerdings ist für ihn ebenso klar: Wenn umgekehrt die SPD vor allem ihre älteren Wähler überzeugt, wird es für die CDU schwierig. Das gilt übrigens auch für die Grünen. Auch deren treueste Wählerschaft sind die über 60-Jährigen.
Bei der Wahl im Saarland hat dieser Effekt im Sinne der CDU funktioniert. Die hat auf der einen Seite eine ganze Menge Nichtwähler aktiviert. Vor allem jedoch konnte Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer die Älteren von sich überzeugen. "Wenn mehr als ein Drittel der Wähler über 60 Jahre alt ist und ihre Wahlbeteiligung bei fast 80 Prozent liegt, dann liegt ihr Stimmanteil bei der Auszählung weit oben im Vierzig-Prozent-Bereich", rechnet Wulff vor. Der Mann kann rechnen, immerhin war er jahrelang Zentraldirektor bei der Deutschen Bank in Frankfurt.
Schon vor fast zehn Jahren hatte der kürzlich verstorbene Altbundespräsident Roman Herzog vor der "Rentnerdemokratie" gewarnt. Gemeint war damit der Effekt, dass die Parteien zu viele Wahlgeschenke an die Älteren machen und dabei die Jüngeren ausgeplündert werden. Diese Gefahr sieht Wulff nicht, da viele Ältere selbst Kinder haben oder schon längst Großeltern sind. Dies führt dazu, dass die Generation Silber "machbare Forderungen stellt, denn sie wollen ja ihren Kindern und Enkeln noch in die Augen schauen können".
Die SPD-Idee mit dem Arbeitslosengeld Q findet er schön und gut, "allerdings muss dann auch wirklich qualifiziert werden", so Wulff. Und eines ist jedem Älteren von selbst klar: "Wollen sie die Alltagsaufgaben weiterhin erfolgreich erledigen, müssen sie sich jeden Tag qualifizieren, und sei es, um ihr Smartphone zu benutzen", so der 84-Jährige. Die Forderung, die Älteren sollen länger arbeiten, sei richtig allein schon wegen der Rentenkasse, fährt Wulff fort. "Aber dann muss der Staat auch dafür sorgen, dass auch die über 60-Jährigen berufliche Fortbildung bekommen. Und danach auch entsprechende Angebote auf dem Arbeitsmarkt. Erst dann macht die Rente mit 67 Sinn."
Die Forschungsgruppe Wahlen attestiert den älteren Wählern ebenfalls, dass ihre Interessen sich nicht so sehr von denen der Jüngeren unterscheiden. Jung und Alt geht es gleichermaßen um soziale Gerechtigkeit und innere Sicherheit, weit danach folgt erst das Rententhema.
Dabei machen sich die unter 60-Jährigen eher über ihre zu erwartende Rente Sorgen. Und die über 60-Jährigen neigen dazu, ihre Rente als zu gering zu empfinden oder zu befürchten, dass die Rentenkasse irgendwann mal leer sein könnte.
Offen ist die Frage, warum bei der Bundestagswahl 2013 die Gruppe der 21- bis 25-Jährigen nur zu 60,3 Prozent, die der über 60-Jährigen zu 79,8 Prozent an die Wahlurne ging. Sozialforscher und Psychologen führen das darauf zurück, dass die Älteren noch die Nachkriegszeit und teilweise die Nazizeit erlebt hätten und darum das Wahlrecht als bürgerliche Pflicht empfinden würden.
Doch das scheint auf die Ostdeutschen, die lange nur Pseudowahlen erlebt haben, nicht ganz zuzutreffen. Sie müssten nach der SED-Zeit und den entsprechenden Einheitspartei-Wahlen dann zu annähernd 100 Prozent zur Wahl gehen, was sie nicht tun.
Vielleicht steigt ja die Wahlbeteiligung der Jungen, wenn sie sich thematisch im Hintertreffen sehen: Weil sich zukünftig immer mehr Alte mit ihren Belangen bei Landtags- oder Bundestagswahlen durchsetzen.
Sven Bargel