Ohne Strausberg wäre Berlin nicht das, was es heute ist. Dort wurde die Berliner Mauer geplant, aus Strausberg kam 1989 aber auch der Befehl, nicht auf die Leipziger Montagsdemonstranten zu schießen. Wo früher die NVA ihren Hauptsitz hatte, ist heute eines der Zentren der Bundeswehr.
Exakt 90 Minuten braucht die S-Bahnlinie 5 von Spandau nach Strausberg Nord. Eine Reise, die sich lohnt: In Strausberg wurde auch Berliner Geschichte geschrieben. Die Stadt im Norden Berlins war Sitz des DDR-Ministeriums für Nationale Verteidigung und riesiger NVA-Kasernen. Heute bietet dort stattdessen die Bundeswehr Arbeitsplätze eine Geschichte von Wandel und Kontinuität.
"Strausberg bildete das Machtzentrum der DDR: Hier war die Hauptstadt der NVA, zugleich so etwas wie die heimliche Hauptstadt der DDR." Hans Odenthal, Bundeswehr-Oberst a.D., weiß, wovon er spricht. Er war von 2004 bis 2007 Chef bei der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation (AIK) in Strausberg. Zugleich war er als amtierender Standortältester für die lokale Kommunikation der Bundeswehrdienststellen nach außen zuständig. Die Militärgeschichte hat er zu seinem Hobby gemacht.
"Das Ministerium für Nationale Verteidigung hier in Strausberg verfügte über direkte Verbindungen zu allen DDR-Ministerien in Berlin", erklärt Odenthal. "Von hier wurde der Bau der Mauer geplant und abgesichert. Und hier fiel letzten Endes auch die Entscheidung, 1989 in Leipzig nicht zu schießen, als dort Hunderttausende auf die Straße gingen."
Strausberg wurde 1956 zum Hauptsitz der NVA. In Berlin galt der entmilitarisierte Vier-Mächte-Status: Deutsches Militär war dort verboten. Also mussten das neue, militärisch geprägte Ministerium und hohe Kommandoeinrichtungen des DDR-Heeres woanders hin. Strausberg verfügte über riesige Kasernen, die von der Sowjetarmee freigemacht wurden. Die Stadt war weit genug weg von Berlin, sodass Aufklärung und Spionage der Westmächte merklich erschwert wurden. 1957 folgten das Kommando Luftstreitkräfte sowie zahlreiche Unterstützungs- und Sicherheitseinrichtungen.
"Welche Bedeutung diese Entscheidung für Strausberg hatte, sieht man an den Einwohnerzahlen", sagt Odenthal. "Von 12.000 im Jahre 1956 schnellte die Zahl auf 28.000 im Jahre 1989." Die Strausberger erlebten ein gewaltiges Wohnungsbauprogramm. Neue S-Bahn-Stationen entstanden, die Züge waren morgens und abends proppenvoll mit Pendlern, die zum Dienst von und nach Strausberg mussten. Das Militär wurde rasch zum wichtigsten Arbeitgeber.
War das eine Stadt in Uniform? Christa Wunderlich, die Leiterin des Stadtmuseums, erinnert sich: "Die Dichte an Generälen und Obristen war schon beeindruckend. Damals trug man die Uniform auch nach Dienstschluss. Aber wir als Zivilbevölkerung hatten keinerlei Zugang zu den militärischen Einrichtungen. Das war alles streng abgeschirmt." Das Klima sei schon angespannt gewesen.
Am 4. Oktober 1990, dem Tag nach Inkrafttreten des Einigungsvertrags, sprach der neue Befehlshaber Kommando Ost, Generalleutnant Jörg Schönbohm, erstmals zu seinen Kommandeuren: "Wir kommen nicht als Eroberer, sondern als Deutsche zu Deutschen." Von da ab ging es rasend schnell. Rund 50.000 verbliebene NVA-Soldaten waren plötzlich dem neugeschaffenen Bundeswehrkommando Ost in Strausberg unterstellt, von einem auf den anderen Tag wurden aus Feinden Kameraden. Per Befehl.
Rainer Eppelmann, Minister für Abrüstung und Verteidigung in der letzten DDR-Regierung, hatte schon zuvor damit begonnen, die NVA zu einer "demokratischen Streitmacht" umzugestalten. Das war für politisch überzeugte NVA-Angehörige zu viel sie dankten freiwillig ab. Sehr viele Berufssoldaten der DDR-Armee waren in der SED. Und auch die Stasi-Hauptamtlichen trugen NVA-Uniform sie wurden allerdings nicht in die Bundeswehr übernommen. "Aber Militär ist Militär deswegen gelang im Rückblick auch die Auflösung der alten und der Aufbau neuer Strukturen so reibungslos", sagt Odenthal. "Einzelne gute persönliche Kontakte waren auch schon nach dem Fall der Mauer geknüpft worden." Eppelmann sagte einmal rückblickend: "Es war einfacher, als wir es uns vorgestellt hatten, weil es viele Ähnlichkeiten gab, im Menschlichen wie in der Dienstauffassung."
Aus Feinden wurden von einem Tag auf den anderen Kameraden
In Strausberg ging es in den Folgejahren Schlag auf Schlag: Ab 1994 verlegte die Bundeswehr zuerst ihre AIK vom nordrhein-westfälischen Waldbröl nach Strausberg. Es folgten Teile des Zentrums Innere Führung aus Koblenz und das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr aus München. Die sowjetischen Streitkräfte verabschiedeten sich, es entstand die größte Militärbibliothek Deutschlands. 2012 zog schließlich der Heeresinspekteur also der Chef der Bodentruppen der Bundeswehr aus der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn nach Strausberg. Er brachte eine Behörde mit 600 Arbeitsplätzen mit. Insgesamt 2.700 militärische und zivile Dienstposten gibt es laut Odenthal heute in Strausberg.
"Die 25 Jahre seit der Wende waren ein Auf und Ab für die Bundeswehr. Mehrere Umstrukturierungen hat sie in der Zeit erlebt, einschließlich der Abschaffung der Wehrpflicht", sagt er. "Das hat sich natürlich auch in Strausberg bemerkbar gemacht. So war auch ein Stab einer Luftwaffendivision hier, die die Aufgabe des früheren Kommandos der NVA-Luftstreitkräfte übernommen hatte. Die wurde 1994 nach Berlin-Gatow verlegt." Wehrbereichsverwaltungen wurden abgeschafft, auch in Strausberg, Kasernen geschlossen, Dienstposten gestrichen. Die Bundeswehr schrumpfte drastisch. Von deutschlandweit über 530.000 Mann am Tag der Einheit blieben 15 Jahre später noch weniger als die Hälfte, nämlich 251.000 Mann. Und heute sind es noch gerade mal 178.000 aktive Soldatinnen und Soldaten.
Bleibt die Frage: Was ist aus all den Armee-Angehörigen geworden? Für Strausberg kann Christa Wunderlich die Frage zumindest teilweise beantworten. Die Museumschefin ist selbst mit einem ehemaligen NVA-Oberstleutnant verheiratet. "Wer in der Bundeswehr den Feind sah, ging weg. Die anderen, die nicht übernommen wurden, suchten sich neue Aufgaben gingen in die freie Wirtschaft, studierten und orientierten sich neu." Die Älteren kamen auch beim Wachschutz unter oder gingen in Rente, hatten dann Zeit für ihre Hobbys. Strausberg hat ein erstaunlich blühendes Vereinsleben: "Über 100 eingetragene Zusammenschlüsse haben wir in einer Stadt mit gerade mal 26.000 Einwohnern", sagt Wunderlich. "Da haben sich viele der Ehemaligen neue Aufgaben gesucht, sei es in der Lernförderung, im Heimatverein oder in Sportvereinen."
Hans Odenthal ist das beste Beispiel. Heute noch hält er Vorträge zur Sicherheitspolitik, diskutiert mit früheren NVA- und Bundeswehr-Offizieren, darunter auch junge Bundeswehrangehörige, die jetzt hier ausgebildet werden. "Die Verlegung der ganzen Bundeswehrdienststellen wurde 1994 im Bundestag damit begründet, dass damit am NVA-Zentrum jetzt das geistige Zentrum der Bundeswehr entstehen soll." Was paradox klingt, hat offenbar funktioniert: Strausberg wurde von der Militärhauptstadt der DDR zum geistigen Zentrum der Bundeswehr. Sie ist heute der größte Arbeitgeber. Das wissen auch die 13 Abgeordneten der Linken im Stadtrat. Sie stellen die dort die Mehrheit, pflegen gute Kontakte zum "Bund". Schließlich arbeiten einige von ihnen selbst dort.
Volker Thomas