Plakativen Slogans gehören zum Wahlkampf wie die Rede-Bausteine der Politiker. Beide gehen oft an den eigentlichen Sorgen und Nöten der Menschen vor Ort ziemlich vorbei, wie Eindrücke aus Kölner Milieus in der heißen Wahlkampfphase zeigen.
Karl-Heinz Miebach ist hellhörig geworden. Die Diskussion um ein Fahrverbot für ältere Dieselfahrzeuge bei Feinstaubalarm hält der Maschinenbauingenieur aus dem Kölner Stadtteil Porz-Zündorf für ziemlich weltfremd. Nachdem die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg den Weg für ein Fahrverbot in der Heimat von Mercedes und Porsche beschlossen hat, will auch NRW-Umweltminister Johannes Remmel ein solches Fahrverbot nicht ausschließen. Auch in NRW müsse geprüft werden, wie Stickoxid-Werte dauerhaft gesenkt werden können, sagte der Grünen-Politiker im Februar dieses Jahres. Was ab 2018 auf besonders belasteten Straßen Stuttgarts möglich sein soll, kann auch in Nordrhein-Westfalen eine Option sein.
Für Karl-Heinz Miebach kaum nachvollziehbar, dass Konsequenzen nicht bedacht würden. Gerade das Handwerk würde ein Verbot hart treffen. "Die meisten Betriebe sind mit Dieselfahrzeugen unterwegs". Wobei er nicht den Eindruck erweckt, als würde er Beschränkungen strikt ablehnen. Nur müssten Dienstleister seiner Meinung nach auch weiter in die Städte fahren dürfen. Reguliert werden könnte der Zugang für private Dieselfahrzeuge, findet der 55-Jährige, der Vorsitzender des Vereins Selbstständiger Handwerksmeister Porz ist. Gleichzeitig könnte das Angebot für Elektrofahrzeuge ausgebaut werden. Das sei derzeit mangelhaft und auch wegen der geringen Reichweite keine Alternative für Handwerksbetriebe.
Stehen statt fahren vor Köln
Dabei hat Nordrhein-Westfalen noch ganz andere ungelöste Verkehrsprobleme, mit erheblichen Konsequenzen. Deshalb legt Miebach Termine mit Kunden nach Möglichkeit nur außerhalb der Hauptverkehrszeiten. "Sonst stehe ich die Hälfte der Zeit im Stau." Und das geht zulasten der Arbeitszeit und somit zulasten des Gewinns, der Gewerbesteuer "und zulasten der Stadt Köln", sagt Miebach. Grund für die katastrophale Verkehrssituation seien die mangelnde Infrastruktur und der Reparaturrückstand. Hier werden falsche Prioritäten gesetzt oder Klientel-Politik betrieben, wie die Diskussion um die Sanierung der Leverkusener Brücke zeige. Er könne NRW-Bau- und Verkehrsminister Michael Groschek (SPD) verstehen, der sich über zu stark ausgeprägte Verhinderungsattitüden grüner Politiker und Bürgerinitiativen aufgeregt hatte, so Miebach.
Den Stau besonders rund um Köln hat auch Ibo Balikcioglu jüngst am eigenen Leib wieder erfahren müssen. Hunderte Kilometer sei er von Wien in die Domstadt gefahren. "Kurz vor Köln hieß es dann stehen, statt fahren." Das Thema Straßenverkehr werde in seinem Café in fußläufiger Nähe zum Kölner Hauptbahnhof natürlich heftig diskutiert, erzählt der 34-Jährige. Doch sei das nur eines von vielen Gesprächsthemen. In seinem Lokal werde über Russlands Präsident Wladimir Putin genauso geredet, wie über die CDU-Abgeordnete im Düsseldorfer Landtag, Serap Güler. "Hier wird viel diskutiert", sagt Balikcioglu, der zu seinen Kunden auch Banker und Anwälte aus der Umgebung zählt.
Eingedenk der Vorfälle in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln kommt auch das Thema Flüchtlinge und Integration auf. Die Politik habe letztere nicht verstanden, schimpft Balikcioglu. Er selbst ist mit zwölf Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen, lebt seit 2002 in Köln. Gerade in sozialen Brennpunkten Flüchtlinge unterzubringen, schaffe nur mehr Probleme. Die Menschen brauchen Unterstützung. "So wie es die Bürger im Stadtteil Widdersdorf im Kölner Westen gemacht haben." Dort haben sich Bürger als Paten um ganze Flüchtlingsfamilien gekümmert. "Das steigert die Chance, die Menschen zu integrieren."
Mit Blick auf die Landtagswahlen in NRW ist Ibo Balikcioglu skeptisch. Egal, wer an der Regierung sei, es werde sich doch nichts ändern, ist der 34-Jährige, der mal Mitglied der Jungen Union war, überzeugt. Schuld daran sei das Kapital, das habe zu viel Macht und gebe die Route vor. "Die Gleise sind gelegt, als Wähler dürfen wir uns nur den Schaffner aussuchen." Aus diesem Grund würde er am 14. Mai auch nicht zur Wahlurne gehen, selbst wenn er einen deutschen Pass hätte und wählen dürfte. Am Türkei-Referendum (an Ostern) hat er sich auch nicht beteiligt.
Kita-Boom und Kitaplatz-Mangel
Nicht zur Wahl gehen, ist auch keine Lösung, findet dagegen Hans Mörtter. Damit überlasse man das Feld den Radikalen. Der 61-Jährige ist evangelischer Pfarrer und seit 1987 an der Lutherkirche in der Kölner Südstadt tätig. Dort gebe es eine lebendige Gemeinde, die sich auch in Sachen Politik engagiere. "Das Wichtigste ist den Menschen, dass sie und ihre Probleme ernst genommen werden", betont der Pfarrer. Und die sind vielfältig.
Die Kölner Südstadt erlebe eine Art Kinder-Boom. Da spielen Themen wie Kita- und Schulplätze eine große Rolle. Es könne nicht sein, dass Eltern mit zwei Kindern eines davon in der Südstadt in die Kita bringen und das andere, mangels Plätzen vor Ort, in eine Einrichtung am anderen Ende der Stadt. Auf solche Probleme der räumlichen Distanzen gehen die kurz vor der Landtagswahl vom NRW-Familienministerium veröffentlichen Zahlen nicht ein. Dort heißt es lediglich, dass es in NRW bis August 2017 rund 660.000 Betreuungsplätze geben soll. (Im Kindergartenjahr 2010/2011 waren es 555.000 Plätze.) Ebenfalls einegroßes Thema seien Preise für Miete oder Eigentumswohnungen, sagt Mörtter. Die seien in Köln in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Jüngst habe er ein Inserat gesehen, in dem eine 130-Quadratmeter-Wohnung zum Kauf angeboten wurde. Der Preis: schlappe eine Million Euro. Gerade durch solche Summen seien Stadtteile in ihrer sozialen Struktur in Gefahr. "Noch haben wir aber eine gute Durchmischung", so der Pfarrer. Nach seiner Beobachtung geht die Zeit der Politikverdrossenheit langsam vorbei. Grund dafür sei auch das Thema Flüchtlinge. "In der Südstadt haben die Menschen gemerkt, wenn wir nicht mit anpacken, klappt es nicht." Mit Engagement lässt sich was bewegen, die Menschen wollen sich mit ihrer Lokalkompetenz einbringen, sagt Mörtter. Ein Grund, der etliche Leute auch wieder bewogen habe, in eine Partei einzutreten, um sich Gehör zu verschaffen. Vor vier Jahren sei das noch ganz anders gewesen, da habe keiner Bock auf Politik gehabt, so der Pfarrer.
Trotz des aus seiner Sicht positiven Trends aus der Politikverdrossenheit heraus müsse die Politik viel mehr mit den Menschen reden. "Viele Politiker wissen nicht, wo es bei den Leuten brennt." Hier spielen vor allem soziale Themen eine große Rolle. Behalte ich meinen Job? Reicht die Rente? Das seien die Fragen, die die Leute interessieren. Die Schere zwischen Arm und Reich dürfe nicht größer werden. "Hier ist mutige Politik gefragt."
Das kann Franco Clemens nur unterstreichen. Der 53-Jährige war etliche Jahre in Köln in sozialen Brennpunkten wie dem Kölnberg und dem Stadtteil Finkenberg unterwegs. In Grevenbroich hat er eine Erstaufnahmestation für Flüchtlinge geleitet und ist derzeit als Streetworker im sogenannten Maghreb-Viertel in Düsseldorf-Oberbilk unterwegs. Für ihn ist besonders der Blick auf die Gesellschaft wichtig. Das Thema Rentenarmut werde vielleicht auch ihn selbst einmal treffen. "Und das, obwohl ich als Sozialarbeiter mit Risikozulagen meiner Meinung nach nicht schlecht verdiene." Doch unterm Strich bleibe auch ihm nur eine kleine Rente. Richtig schlimm sieht es aber bei Hartz-IV-Empfängern aus. Die befinden sich ihr Leben lang in einem Kreislauf der Armut mit all seinen möglichen Folgen wie Schwarzarbeit oder Alltagskriminalität.
Neid spielt AfD in die Hände
Ein wichtiger Aspekt, den Clemens bei seiner Arbeit festgestellt hat, ist eine Armuts-Konkurrenz. Menschen in sozialer Schieflage gegen Flüchtlinge. Dies habe auch damit zu tun, dass so manche Kommune in NRW durch die Zuweisung von sogenannten Kontingent-Flüchtlingen durch das Land finanziell am Krückstock gehe. "Wo kein Geld ist, müssen Einsparungen gemacht werden." Und das geschieht meist in dem Bereich der freiwilligen sozialen Leistungen. Die Folge: Neid. "Das spielt Parteien wie der AfD in die Hände."
Von der Landesregierung fordert er, auf die Probleme der Sozialpolitik einzugehen. Da spielt auch das Thema Wohnen eine große Rolle. So habe das Land NRW mit dem Wohnungsaufsichtsgesetz den Kommunen ein Instrument an die Hand gegeben, um gegen verwahrloste Wohnungen und schwarze Schafe unter Vermietern und Immobilien-Heuschrecken vorzugehen. "Nur es muss auch angewendet werden." Und er warnt auch vor den sozialen Folgen übertriebener Umweltpolitik. Die müsse auch auf die soziale Verträglichkeit abgestimmt sein. "Nicht jeder Mensch kann sich alle zwei Jahre ein neues Auto kaufen, weil wieder ein neues Verbot in Kraft tritt."
René Denzer