Der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi ist überzeugt: Wer den Islam liebt, muss ihn kritisieren. Dass er damit bei traditionellen Islamverbänden auf Widerstand stößt, nimmt er in Kauf. Ourghi über die Hintergründe und Ziele der "Freiburger Deklaration" und Reaktionen darauf.
Herr Ourghi, am Anfang der Freiburger Deklaration steht das knapp 800 Jahre alte Zitat des Gelehrten Ibn Ruschd: "Unwissenheit führt zu Angst, Angst führt zu Hass und Hass führt zu Gewalt." Warum haben Sie diesen Satz ausgewählt?
Ibn Ruschd war zur damaligen Zeit ein bedeutender Gelehrter und Arzt. Er hat die Schriften von Aristoteles rezipiert und war darüber hinaus ein offener und kritischer Geist seiner Zeit und hat immer die Menschen aufgefordert, Gebrauch von ihrer Vernunft zu machen.
Die säkularen Muslime in Deutschland, Österreich und der Schweiz haben im September die sogenannte "Freiburger Deklaration" vorgelegt. Sie und Ihre Glaubensgeschwister träumen von einer Islamreform, von einer offenen, toleranten und friedlichen muslimischen Gemeinschaft. Wie hat die Politik auf die Erklärung reagiert?
Wenn wir den Begriff träumen verwenden, heißt das nicht, dass man sich auf der Ebene des Traums bewegt. Gemeint ist damit ein Anliegen, das verwirklicht werden kann. Das hat auch damit zu tun, dass wir hierzulande im westlichen Kontext leben und die entsprechenden Rahmenbedingungen vorhanden sind, zum Beispiel die Pluralität der Gesellschaft und die Vielfalt der Religionen. Wir haben wirklich keine Reaktionen vonseiten der Politik erhalten.
Nicht einmal von einzelnen Bundes- oder Landtagsabgeordneten?
Volker Beck (Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen) hat die Erklärung sehr begrüßt. Von der CDU und der SPD haben wir bisher nichts gehört, und auch vonseiten der Bundesregierung gab es keine offizielle Reaktion. Warum bemüht man sich nicht darum, mit einem aufgeklärten Ansprechpartner, der einen modernen und aufgeklärten Islam etablieren will, Gespräche zu führen?
Gab es auch Reaktionen seitens der konservativen Islamverbände wie der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, kurz Ditib?
Die konservativen muslimischen Dachverbände haben keine offizielle Reaktion abgegeben. Ich glaube, das könnte damit zu tun haben, dass es eine Frage der Deutungshoheit ist. Es wird wohl befürchtet, dass man, wenn man mit uns spricht, dadurch Macht im öffentlichen Raum verliert. Es gab, was uns sehr überrascht hat, eine offizielle Kritik vom Liberal-Islamischen Bund. Kritisiert wurde besonders meine Person und dass wir eine Grundlage für Islamophobie legen. Diese Kritik betrachten wir als unberechtigt.
Ende Oktober vergangenen Jahres haben Sie in einem offenen Brief an Bundesinnenminister Thomas de Maizière dargelegt, dass die Deutungshoheit über den Islam in Deutschland nicht einzelnen muslimischen Verbänden überlassen werden sollte. Warum?
Ich finde es hervorragend von den Politikern der etablierten Parteien und auch von den beiden Kirchen, dass sie einen Dialog mit den konservativen Muslimen führen. Allerdings waren bei der jüngsten deutsch-islamischen Konferenz am 28. September oder in den vergangenen Jahren nur die konservativen Dachverbände vertreten. Da vermissen wir die Stimmen der säkularen Muslime. Es entsteht langsam das Bild, dass man nur mit den bereits etablierten konservativen Verbänden spricht und die liberalen Muslime außen vor lässt.
Am Schluss des offenen Briefes sprechen die säkularen Muslime ein Thema an, das Ihnen am Herzen liegt: den islamischen Religionsunterricht. Wie sollten Ihrer Vorstellung nach die Lehrpläne für den Islamunterricht konzipiert werden?
Lassen Sie mich bitte daran erinnern, dass die Ditib Ende der 80er-Jahre vehemente Gegner des islamischen Religionsunterrichts war. Wir warnen wirklich davor, dass die Inhalte des Islamunterrichts von den konservativen Dachverbänden bestimmt werden. Ich plädiere für das Modell von Bayern. Dort sind für die Inhalte die Dozenten der Hochschulen, wo auch die islamischen Religionslehrer ausgebildet werden, zuständig.
Das heißt, sämtliche muslimische Verbände sollte man Ihrer Meinung dabei nicht einbeziehen?
Dafür plädiere ich. Sehen Sie mal, die Ditib hat eine ausländische Agenda aus der Türkei. Sie steht in enger Verbindung mit der Diyanet, dem Ministerium für religiöse Angelegenheiten und mit der AKP, der Regierungspartei von Erdogan. Diese Behörde hat den Auftrag, die in Deutschland lebenden Kinder aus muslimischen Zuwandererfamilien in einen konservativen Islam einzuführen und die Bindung zum Heimatland ihrer Eltern zu stärken. Solch eine Vorgehensweise ist ein Hindernis für die Integration in Deutschland.
Warum sehen Sie ein Problem darin, dass die Ditib in Deutschland lehrende Imame in der Türkei ausbilden lässt?
Muslimische Kinder, die in einem westlichen Kontext sozialisiert werden, brauchen Inhalte, die zu ihrer jetzigen Lebenssituation passen. Genauer: Sie brauchen keine Import-Inhalte und keine Import-Personen, die unsere Kinder in Sachen Religion erziehen. Eine Politik, in der ausländische Regierungen, wie die der Türkei, über die Zukunft des Islam unserer Kinder entscheiden, lehne ich rigoros ab.
Wie sieht ein alternatives Modell der Imamausbildung aus?
Gemäß Artikel 7, Paragraf 3 des Grundgesetzes braucht der Staat einen Ansprechpartner für die Ausgestaltung des Religionsunterrichts. Es gibt aber nicht einen Ansprechpartner, sondern mehrere. Wir warnen davor, wenn der Staat nur mit den konservativen Dachverbänden spricht. Wir haben eine andere Lösung. Die liberalen Muslime sollten mit ins Boot genommen werden. Ideal wäre es, wenn der Staat einen Rat, bestehend aus bedeutenden Muslimen verschiedener Glaubensgemeinschaften, einberuft. Dieser Rat könnte als Ansprechpartner für den Staat gelten.
Die säkularen Muslime lehnen jegliche Art von Diskriminierung ab, so auch die Homophobie. Könnten Sie sich vorstellen, den schwulen Imam Ludovic-Mohamed Zehad zu treffen, um sich mit ihm auszutauschen?
Für mich ist dieser Imam, noch bevor ich seine Religion in Betracht ziehe, ein Mensch. Mich interessiert nicht seine Sexualität. Wenn ich ihn treffen würde, dann würde ich ihn als Menschen und auch als Muslim treffen. Ich würde mit ihm reden und diskutieren, aber ich würde ihn nie auf seine sexuelle Orientierung reduzieren. Mir ist wichtig, einen lebendigen Dialog mit allen Muslimen und anderen zu führen. Alles, was darüber hinaus geht, ist etwas Privates. Ich respektiere Herrn Zehad genauso wie er ist.
Denken Sie, dass den säkularen Muslimen ein langer Kampf gegen die finanzstarken, konservativen Islamverbände bevorsteht?
Wir brauchen hier in Deutschland eine ehrliche innerislamische Debatte. Wir sind bereit, mit allen zu sprechen, natürlich auch mit den konservativen Dachverbänden. Uns geht es nicht nur um die Deutungshoheit des Islam, sondern auch darum, die Menschen in ihrer eigenen Religion in einem anderen Kontext aufzuklären. Unsere Aufgabe besteht darin, insbesondere der schweigenden Mehrheit der Muslime, die nicht organisiert ist, eine Stimme zu geben und sie zu vertreten. Diese Muslime beten zwar in den Moscheegemeinden der Dachverbände. Sie sind jedoch nicht an politischen Diskussionen interessiert oder daran, von anderen vertreten zu werden. Wir möchten diese Menschen dazu ermutigen, dass sie lauter werden und ihre Anliegen artikulieren. Dazu gehört auch, dass sie jedwede Gewalt kategorisch ablehnen.
Interview: Benjamin Rannenberg
Zur Person:
Abdel-Hakim Ourghi, Jahrgang 1968, wurde in Algerien geboren. 2006 promovierte er an der Universität Freiburg. Seit 2011 leitet er den Fachbereich Islamische Theologie an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg. Einer seiner Schwerpunkte ist die Koranforschung. Er plädiert unter anderem für eine Auslegung der Texte in Bezug auf die heutige Lebenswirklichkeit. Er setzt sich dafür ein, dass Freitagspredigten in deutscher Sprache gehalten werden müssen und lehnt einen Import ausländischer Imame ab.
Für seine Positionen erntet er heftige Kritik. So bezeichnen andere Islamwissenschaftler seine exegetische Methode als "unausgereift". Ourghi sieht sich regelmäßigen Anfeindungen gegenüber. Unter anderem wurde er auch als "Abtrünniger" bezeichnet, was einer Morddrohung gleichkommt.
POLITIK
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