Gemeinhin muss die Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland als Probelauf für den Bund herhalten. Die Ausgangslage lässt aber nur eingeschränkt Rückschlüsse zu. Zu stark scheint die SPD-Ministerpräsidentin und zu schwach der CDU-Herausforderer.
Nach ihrer letzten Plenarsitzung in dieser Legislaturperiode schoben etliche Parlamentarier des Düsseldorfer Landtags Überstunden. Bis kurz vor Mitternacht nahmen Abgeordnete der Oppositionsfraktionen von CDU und FDP im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss die Zeugin Hannelore Kraft in ein vierstündiges Kreuzverhör. Die nordrhein-westfälische SPD-Regierungschefin sollte über mögliche Fehler ihrer Sicherheits- und Ausländerbehörden im Umgang mit dem Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri Auskunft geben. Je hartnäckiger die Aufklärer bohrten, desto öfter antwortete die prominente Zeugin mit Nichtwissen. "In solche Details steige ich als Ministerpräsidentin nicht ein", bekannte Kraft und verwies immer wieder auf ihre Juristen in der Staatskanzlei. Schließlich sei sie nur Laie in solch komplexen Rechtsfragen. "Ich würde mich als Hobby-Juristin bezeichnen."
In knapp vier Wochen wird in Nordrhein-Westfalen (NRW) ein neues Landesparlament gewählt. Die Opposition sammelt im Fall Amri Wahlkampfmunition, um den affärengeplagten NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) und die Sicherheitspolitik der rot-grünen Landesregierung zu attackieren. Unmittelbar nach dem Lkw-Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt hatte Jäger versichert, seine Behörden seien "bis an die Grenzen des Rechtsstaats" gegangen, um den von den NRW-Behörden frühzeitig als salafistischen Gefährder eingestuften Tunesier festzusetzen und in sein Heimatland auszuweisen leider vergeblich.
Inzwischen steht Jäger im Verdacht, eklatantes Behördenversagen im Umgang mit Amri zu vertuschen. "Sie wollen nicht aufklären. Sie kleben an ihrem Stuhl", schleuderte der CDU-Abgeordnete Daniel Sieveke der Ministerpräsidentin in der letzten Plenarsitzung entgegen. Kraft macht für die unübersehbaren Pannen bei der Überwachung des Islamisten nicht ihren Innenminister, sondern die holprigen Schnittstellen zwischen Bundes- und Landesbehörden verantwortlich. "Die Einschätzung der Gefährlichkeit des Gefährders war falsch."
CDU: Vorstellung der Wahlkampagne in 170 Metern Höhe
Mit dem Fall Amri wollen CDU und FDP im laufenden Landtagswahlkampf endlich in die Offensive kommen. Der Innenminister wird als "Unsicherheitsminister" verspottet. Täglich werden an Rhein und Ruhr 144 Wohnungseinbrüche registriert. Das sind mehr Einbrüche als in sechs anderen Bundesländern zusammen. Doch trotz der rot-grünen Achillesferse in der Innenpolitik, bleiben die Oppositions-Attacken bisher offenkundig nicht bei den Wählern hängen.
Nach den aktuellen demoskopischen Umfragen liegen die Sozialdemokraten in ihrem Stammland NRW derzeit bei 37 bis 40 Prozent. Das entspricht einem Vorsprung zwischen sieben und 13 Prozent vor den Christdemokraten. Auch bei den Persönlichkeitswerten ist die immer noch populäre SPD-Regierungschefin ihrem CDU-Herausforderer Armin Laschet haushoch überlegen. Selbst eine Mehrheit der christdemokratischen Anhänger würde Kraft bei einer Direktwahl laut Infratest dimap zur Ministerpräsidentin wählen. Trotz unübersehbarer Schwächephasen in ihrer siebenjährigen Amtszeit eilt der 55-jährigen Sozialdemokratin der Ruf einer fürsorglichen Kümmererin voraus. Damit hat es die rustikale Revierfrau erfolgreich geschafft, offene Flanken ihrer rot-grünen Landesregierung zu kaschieren.
Nicht erst seit den massenhaften Übergriffen von Migranten-Mobs in der Kölner Silvesternacht 2015 hat sich die rot-grüne Landesregierung bei der inneren Sicherheit angreifbar gemacht. Auch die Misshandlungen von Flüchtlingen durch private Sicherheitskräfte oder der aus dem Ruder gelaufene Polizeieinsatz bei der Hogesa-Krawalldemo gewaltbereiter Fußballfans in Köln werden dem NRW-Innenminister angelastet. Ein weiterer Malus der amtierenden Landesregierung ist die Schul- und Wirtschaftspolitik, wo das bevölkerungsreichste Bundesland im Ländervergleich zumeist auf den hinteren Rängen rangiert.
Bisher ist es CDU-Spitzenkandidat Laschet aber nicht gelungen, aus all diesen Schwächen von Rot-Grün für seine Partei Kapital zu schlagen. Den personell ausgezehrten Christdemokraten fehlt es unübersehbar an personellen Alternativen. Bis heute hat der 55-jährige CDU-Politiker kein Schattenkabinett präsentiert. Die Partei laviert sich durch diesen Wahlkampf. Lange wollte die CDU an den NRW-Hochschulen wieder Studiengebühren einführen. Wenige Wochen vor der Wahl knickte sie ein. Dann strebte Laschet eine Lockerung des strikten Raucherschutzes an. Die Partei pfiff ihn zurück.
Zur Präsentation seiner Wahlkampagne stieg der CDU-Frontmann auf den 170 Meter hohen Düsseldorfer Rheinturm. Vor Kameras und Fotografen zeigte er auf die Staatskanzlei hinunter, die er am 14. Mai erobern will. Als Laschet wieder runterkam, hatte er eine alberne Plagiatsdebatte am Bein. Sein Wahlkampfmotto "Zuhören. Entscheiden. Handeln." sei von dem damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder aus dem Jahre 1994 abgekupfert, behaupten die Sozialdemokraten. Laschet kontert, er habe diesen Slogan bereits 1993 als Aachener CDU-Kandidat plakatiert. Er sei dazu seinerzeit von der Papst-Enzyklika "Populorum Progressio" inspiriert worden, offenbarte der gläubige Katholik.
Inzwischen mehren sich auch innerhalb der CDU die Zweifel, ob Laschet der richtige Spitzenmann ist. In den Umfragen liegt seine Partei zwischen mageren 27 und 30 Prozent. Etliche konservative Medien beklagen, dass dem leutseligen Christdemokraten Profil und Härte in der Auseinandersetzung mit den Genossen fehle. Zudem wird ihm sein Faible für ein Bündnis mit den Grünen verübelt. Zu nett, zu lasch, zu sprunghaft, urteilen seine Kritiker über den lebenslustigen Rheinländer. In diesen Tagen macht eine längst dementierte Anekdote über Laschet Karriere, er sei während seiner Zeit als Integrationsminister beim Telefonieren mit Handy und Zigarillo in einen Pool gestürzt.
Als Stichwortgeber für diese Storys werden der Berliner Finanz-Staatssekretär Jens Spahn, der CDU-Mittelstandschef Carsten Linnemann und der JU-Bundesvorsitzende Paul Ziemiak vermutet. Den drei aus NRW stammenden Christdemokraten und Merkel-Kritikern wird nachgesagt, sie strebten im Falle einer Wahlniederlage die Macht im mitgliederstärksten CDU-Landesverband und die Ablösung Laschets als CDU-Landeschef an.
Im Gegensatz zu Laschet wird FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner im Landesparlament als der eigentliche Oppositionsführer wahrgenommen. Der mundflinke Freidemokrat setzt im Landtagswahlkampf auf Frontalangriff. "Nichtstun ist Machtmissbrauch", ätzt er über die rot-grüne "Tunix-Regierung". Auf seinen Wahlplakaten lästert er vor dem Hintergrund einer farbverschmierten grauen Mauer: "Nur weil Kinder gerne im Dreck spielen, müssen die Schulen nicht so aussehen." Der Erfolg scheint Lindners Strategie Recht zu geben. Die Demoskopen prognostizieren für die FDP in NRW zwischen acht und elf Prozent.
Grüne: Schulministerin in der Moralfalle
Während CDU-Herausforderer Laschet lange Zeit den Grünen als zukünftiger Koalitionspartner rücksichtsvolle Avancen machte, nahm Lindner deren Schulministerin Sylvia Löhrmann frühzeitig ins Visier. Die grüne Frontfrau steht wegen zunehmendem Unterrichtsausfall, überfüllten Klassen mit Flüchtlingskindern und haarsträubenden Mängeln bei der schulischen Inklusion seit Monaten im Kreuzfeuer der Kritik auch beim sozialdemokratischen Koalitionspartner. Bei den Ökopaxen herrscht Panik pur. Nach den aktuellen Umfragen haben sich die Grünen gegenüber der vergangenen Landtagswahl in NRW auf sechs Prozent glatt halbiert. Ein Ende des Sinkflugs ist noch nicht abzusehen.
Spitzenkandidatin Löhrmann leistete sich die K.o.-Szene dieses Wahlkampfs. Als sie dieser Tage von ihrer schwarzen Audi-A?8-Dienstlimousine für einen Termin an der Parteibasis eigens in ein umweltfreundliches Toyota-Hybridauto umstieg, wurde sie von einem CDU-Politiker fotografiert. Die Szene von dem peinlichen Autowechsel verbreitete sich über die sozialen Netzwerke in Windeseile. Über die 60-jährige Schulministerin in der Moralfalle ergossen sich Hohn und Spott. In einer Telefonkonferenz über die Posse suchte ein grüner Stratege Zuflucht beim Fußball-Philosophen Andy Brehme: "Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß."
Somit scheint die Fortsetzung einer rot-grünen Regierung am Rhein in weite Ferne gerückt. Während die Liberalen eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP ausschließen, hat die Parteiführung der Ökopartei im Gegenzug eine Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen für tabu erklärt. Damit sind die Koalitionsmöglichkeiten in Nordrhein-Westfalen, wo fast ein Viertel aller Bundesbürger an die Urnen gerufen werden, zunehmend begrenzt. Nachdem Ministerpräsidentin Kraft auch eine rot-rot-grüne Koalition wegen der Linken ("nicht regierungswillig und regierungsfähig") ausschließt, bliebe am Ende nur eine Große Koalition oder die Renaissance eines sozial-liberalen Bündnisses. Voraussetzung dafür wäre, dass SPD und FDP ihren demoskopischen Aufwärtstrend in den kommenden drei Wochen stabilisieren können.
Die Sozialdemokraten haben bisher der Versuchung widerstanden, die Landtagswahl zu einer Urabstimmung über ihren aus dem rheinischen Würselen stammenden SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz umzufunktionieren. Der Schulz-Hype erscheint maßgeblichen Strategen der NRW-SPD seit dem überraschend klaren CDU-Sieg im Saarland arg fragil. Spitzenkandidatin Kraft warnt ihre Genossen bei fast jedem ihrer Auftritte: "Stimmungen sind noch keine Stimmen."
Johannes Nitschmann