Am 25. März jährt sich zum 60. Mal die Geburtsstunde der Europäischen Union in einer Zeit, in der die EU gezwungen ist, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen. Welche Möglichkeiten es gibt, hat Kommissionspräsident Juncker in einem Weißbuch zur Diskussion gestellt.
Ganze 60 Jahre lang schlug die europäische Integration Wurzeln auf einem Kontinent, der bis dato immer wieder von Kriegen gespalten war. Kein Wunder, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seinem kürzlich vorgestellten "Weißbuch zur Zukunft Europas" diesen Gedanken an erster Stelle nennt. Doch abseits der längsten Friedenszeit für immerhin etwas 500 Millionen Bürger, die Europa je genießen durfte, sammeln sich Bedrohungen und bislang ungelöste Krisen, die die europäische Integration verlangsamen, ja torpedieren, um sie letztlich zu verhindern: aufkeimender Nationalismus, gekoppelt an populistische Strömungen, allen voran der Brexit, eine immer wieder kritisierte Bürgerferne des mächtigen EU-Politapparates, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Schuldenkrise, Flüchtlings- und Migrationsbewegungen. Selbst in der Bundesregierung soll es Stimmen geben, die kaum verhohlen darüber spekulieren, ob ein Rückzug der EU auf Binnenmarktüberwachung nicht doch die beste Lösung sei. Juncker bringt das in Rage, sei die EU doch mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft.
Ungeachtet der Krisen in Europa wächst die Zustimmung der Bürger zur EU in Deutschland und europaweit. Das geht aus einer Umfrage hervor, die von der EU-Vertretung in Berlin veröffentlicht wurde. Für 37 Prozent der Deutschen hat die Europäische Union ein gutes Image, das bedeutet eine Verbesserung um acht Prozentpunkte im Vergleich zur letzten Befragung im Mai 2016. Der Anteil derer, die mit der EU ein negatives Bild verbinden, ist von 29 auf 21 Prozent gesunken. Der Rest hat ein neutrales Bild. Das Ansehen der Europäischen Union ist auch europaweit leicht gestiegen. 35 Prozent (+1) der Europäer haben ein gutes Bild von der EU, 25 Prozent (-2) ein schlechtes und 38 Prozent ein neutrales Bild. Eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2015 kommt zu ähnlichen Ergebnissen.
Die Zustimmungswerte sind also hoch, allein, es fehlt die Begeisterung. Die versuchen jetzt die Bürger selbst zu entfachen, wenn der Funke aus dem fernen Brüssel nicht überspringen mag: Pulse of Europe nennt sich eine Bewegung, die ein Münchener Anwaltspaar angesichts des Brexit gegründet hat, um pro-europäischen Kräften in Deutschland und Europa und damit wenigstens der Idee eines friedlichen EU-Superstaates eine Struktur zu geben.
Allein, die Zukunft der EU-Institution ist noch ungewiss. Die Szenarien, die Juncker zur Diskussion stellt, decken fünf verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten der EU bis 2025 ab. Sie reichen von einer radikalen Rückbesinnung auf den Binnenmarkt bis hin zu einem Modell der Vereinigten Staaten von Europa, in dem die EU-Länder deutlich mehr Entscheidungsgewalt von der nationalen Ebene an die EU abgeben würden. Dazwischen liegen noch ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, eine Konzentration auf einige wenige wichtige Politikbereiche, in denen dann mehr gemeinsame Beschlüsse getroffen würden, sowie ein Modell, das im Wesentlichen ein "Weiter so" der bestehenden EU bedeuten würde.
Vermutlich werde es letztendlich auf eine sechste Option hinauslaufen, sagt Juncker. Denkbar ist demnach auch eine Mixversion der fünf Szenarien. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sollen sich nun mit dem Papier beschäftigen und überlegen, in welche Richtung sie die EU führen wollen. Im Idealfall gibt es zum geplanten EU-Austritt Großbritanniens in zwei Jahren bereits konkrete Ergebnisse.
Wirtschaftliche Interessen haben die EU geformt, wirtschaftliche Interessen bleiben nach wie vor zentraler Bestandteil der Brüsseler Entscheidungsfindung. Die EU ist keine Bürgerunion. Für ein europäisches Nationalgefühl müssen diese selbst sorgen.
Immerhin sind die ersten Schrecken, die die europäische Neue Rechte zu verbreiten sucht, erst einmal ausgestanden. Kommissionschef Juncker hat dem niederländischen Premier Mark Rutte zum klaren Sieg bei den Parlamentswahlen gratuliert. "Ein Votum für Europa, ein Votum gegen Extremisten", teilte Junckers Sprecher Margaritis Schinas erleichtert per Twitter mit. Das nächste Menetekel erscheint jedoch schon an der Wand in Form von FN-Chefin Marine Le Pen, die Frankreich am liebsten aus der EU lösen möchte. Bislang hat sich die EU erfolgreich gegen Störmanöver aus Polen und Ungarn gewehrt. Vor allem, weil sie im Falle Polens vermutlich eher persönlicher Natur sind, EU-Ratspräsident Donald Tusk und Polens Strippenzieher, PiS-Chef Jaroslaw Kaczinsky, gelten als Intimfeinde.
Die Integration geht derweil weiter. An einer gemeinsamen Staatsanwaltschaft der Union wollen sich zunächst 17 der 28 EU-Staaten beteiligen. Der Staatsanwalt solle "in bestimmten grenzüberschreitenden Fällen ermitteln und direkt vor den nationalen Gerichten Klage gegen Straftäter erheben können", schrieb Juncker in einem Gastbeitrag für die "Neue Passauer Presse". Wann und wo die Integration endet, bestimmen die Staaten spätestens 2019. Dann soll der Kurs für den schwerfälligen Dampfer EU neu gesetzt sein.
Von Falk Enderle
Kein Herumeiern
Ein Kommentar von Dr. Gregor Halmes
Die Initiative des EU-Kommissionspräsidenten lässt die Katze mindestens an zwei Stellen nicht aus dem Sack: Kaum jemand will sich derzeit in Europa festlegen, wie es nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland mit der EU weiter gehen soll
am wenigsten die deutsche Bundeskanzlerin. Da man aber glaubt, zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge am 25. März "richtungsweisendes" verkünden zu müssen (der eigentliche Gründungsakt der EU wäre m.E. ohnehin der "Schuman-Plan" von 1950), belässt man es bei einem "Eiertanz". Man benennt Optionen für eine mögliche Weiterentwicklung, ohne klare Aussagen zu treffen. Dabei sind die von Jean-Claude Juncker auf knappen 32 Seiten dargelegten Reformvarianten nicht einmal vollständig: Es fehlt das Reizthema "Kerneuropa". Nur dieses Konzept könnte ernsthaft für sich in Anspruch nehmen, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten anzustreben. Das Europa der "unterschiedlichen Geschwindigkeiten" ist dagegen ein alter Hut. Es gibt es schon: "ungeordnet" beim Schengen-Raum wie beim Euro, geordnet nach den EU-Verträgen in einigen wenigen weiteren Fällen. Davon hätte man auch bisher schon viel häufiger Gebrauch machen können wollte man aber nicht, offenbar aus guten Gründen. Die Juncker-Initiative bringt Europa folglich nicht wirklich weiter. Was Not tut, wäre klare Kante, so wie sie Kohl, Mitterrand und Delors vor 30 Jahren gezeigt haben: Klare europapolitische Perspektiven statt Herumeiern angesichts von zahlreichen Tabuthemen in der EU. So ist europafeindlicher Rechtspopulismus nicht erfolgreich zu bekämpfen.
Dr. Gregor Halmes ist Politikwissenschaftler an der Universität des Saarlandes
POLITIK
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