Die Initiative "Volksentscheid Fahrrad" kämpft auch nach der Wahl weiter für eine bessere Infrastruktur. Wir haben eine Fahrradtour durch den Berliner Asphaltdschungel gewagt.
Die Warnweste ist angelegt, der Helm sitzt. Noch kurz den Reifendruck checken, dann kanns losgehen. Schon lange schwärmen Reiseveranstalter von "Berlin by Bike", wenn sie Radtouren durch die Hauptstadt verkaufen. So einigen Einheimischen gruselt es hingegen, wenn sie an gefährliche Kreuzungen, beengte (oder gar nicht vorhandene) Radwege und schweißtreibende Abbiege-Manöver denken. Seit Monaten tobt eine Diskussion darüber, wie fahrradfreundlich oder -feindlich Berlin denn nun wirklich ist. Die Initiative "Volksentscheid Fahrrad" treibt Politiker mit einem Gesetzentwurf vor sich her, der einen Zehn-Punkte-Plan enthält. Sollten die Forderungen vom neu gewählten Senat nicht umgesetzt werden, peilen die Mitglieder ein Volksbegehren für 2017 an. Während die Debatte noch läuft, hat FORUM schon mal den Test gemacht: eine Zweirad-Runde quer durch Berlin, begleitet von zwei Mitgliedern der Fahrrad-Initiative.
Volkspark Friedrichshain
Wir starten um genau 17 Uhr, mitten im Berufsverkehr. Entgegen den Erwartungen ist es auf der Hauptstraße "Am Friedrichshain" erstaunlich ruhig. Während die Jogger im Park ihre Runden drehen, kommen wir auf dem Radweg zügig voran. Trotzdem stellt sich ein mulmiges Gefühl ein: Direkt neben dem Radweg parken die Autos. Eine unvorsichtig geöffnete Fahrertür schon wäre der Sturz perfekt. Egal, keine Zeit für düstere Gedanken. Diese werden ohnehin durch das starke Ruckeln vertrieben, dem die Drahtesel ausgesetzt sind. Je weiter wir fahren, desto deutlicher zeigt sich der Zustand des Radwegs: optisch passabel, beim Fahren aber alles andere als bequem. Modern geht anders.
B96a
Nachdem sich alle warmgestrampelt haben, wechseln wir auf die B96a. An der Kreuzung ist die Lage vorbildlich, es gibt sogar eine Fahrrad-Ampel. Doch kaum rollen die Reifen über die Bundesstraße, ist vom Radweg nichts mehr zu sehen. Zum Glück ist die Fahrbahn mehrspurig. Die meisten Autos weichen aus, während wir auf der rechten Spur trampeln. Doch die Freude währt nicht lange: Schon nach wenigen Metern blockiert ein parkender Lkw den Weg. Arm raus, Schulterblick, Ausscheren auf die mittlere Spur. Kurzes Herzklopfen. Nicht etwa ein Auto zischt im Porsche-Tempo an uns vorbei, sondern ein anderer Radfahrer. "Jeder hat eben sein eigenes Tempo", sagt Katja Täubert, aktives Mitglied beim "Volksentscheid Fahrrad". Früher war die 33-Jährige selbst leidenschaftliche Autofahrerin. Seit sie im Umweltbereich arbeitet, hat sich ihre Einstellung geändert. "Das Fahrrad ist perfekt für eine Stadt wie Berlin. Dieses Verkehrsmittel ist die Lösung für so viele Probleme."
Richtung Mitte
Langsam macht die Tour Spaß. Sicher, der Radweg fehlt, aber man kommt schnell voran. Während die Autos im Schritttempo von einem Stau zum nächsten zuckeln, weht uns der Fahrtwind um die Ohren. Wie aus dem Nichts taucht auf Höhe der Prenzlauer Allee plötzlich ein Radweg auf, der im weiteren Verlauf der B96a erhalten bleibt. So richtig geradeaus geht es aber nicht: Mal verläuft die Spur am rechten Rand der Bundesstraße, mal über den Bürgersteig. Geschenkt es wäre schon viel erreicht, wenn überhaupt jede Hauptstraße (wie es die Initiative fordert) über einen Radweg verfügte. An der Kreuzung Danziger Straße/Schönhauser Allee bahnt sich das nächste Unheil an. Vom Radweg am äußersten rechten Rad müssen wir nach links auf die Abbiegespur wechseln. Wieder die altbekannte Prozedur: Arm raus, rüberziehen und darauf hoffen, dass der mächtige SUV die Zeichen erkennt. Zu allem Überfluss kreuzt auch noch eine Straßenbahn. "Schön ist das nicht, aber so was erleben wir täglich", meint Hille Bekic (45), Architektin und ebenfalls Mitglied der Initiative. Beide Frauen fahren übrigens ohne Helm.
Fahrradstraße
Durchatmen auf der Linienstraße. Seit 2008 ist sie als Fahrradstraße ausgewiesen, das heißt Radfahrer haben laut Straßenverkehrsordnung Vorrang und dürfen nebeneinander fahren. Am Anfang haperte es an der Umsetzung. "Wer sich zu Hauptverkehrszeiten in diese Straße wagt, kann froh sein, wenn er die Fahrt ohne gefährliche Zwischenfälle übersteht", schimpfte das Magazin "Berlin Online". In der "Berliner Zeitung" berichteten Anwohner von Radfahrern, die angehupt würden, weil sie nebeneinander führen. Und heute? Alles ganz entspannt, zumindest an unserem Test-Tag. "Das ist nicht immer so", erzählt Hille Bekic. "Besonders im Winter, wenn viele Autos unterwegs sind, kürzen sie gerne über die Linienstraße ab. Da kommt es öfter zu Konflikten." Ebenfalls absurd: Die Linienstraße ist keine durchgängige Fahrradstraße. Vor jeder Kreuzung endet die Klassifizierung, sodass dort plötzlich "Rechts vor Links" gilt. Unmittelbar nach der Kreuzung läuft die Fahrradstraße weiter. "Total unverständlich", meint Bekic. "Damit sind Unfälle vorprogrammiert."
Südlich der Spree
Auch für Radfahrer existiert die Rushhour. Dank zahlreicher Ampeln stehen auf der Friedrichstraße alle gleichermaßen im Stau: Autos, Lkw, Fahrräder. Mit dem Unterschied, dass sich Radfahrer in dieses Gemenge quetschen müssen. Einen separaten Radweg gibt es nicht; immer wieder rauschen Taxis an uns vorbei, um es bei Gelb über die Ampel zu schaffen. Aus einem Cabrio dröhnt Hip-Hop; im Schatten der Betonhäuser stauen sich die Abgase. Was ist wohl gefährlicher für die Lungen? Rauchen oder Fahrrad fahren in Berlin? Für Profi-Radlerin Katja Täubert überwiegt der sportliche Aspekt: "Durch die Bewegung kompensiert man die Abgase", ist sie sich sicher. "Bei Kindern wäre ich aber vorsichtig. Die Fahrradanhänger befinden sich oft genau auf der Höhe des Auspuffs."
Moritzplatz
"Wenn der Wille da ist, geht es eben doch", freut sich Hille Bekic, als wir den Kreisverkehr am Moritzplatz erreichen. Für Radfahrer ist dieses Konstrukt ein Traum. Innerhalb des Kreisverkehrs gibt es einen eigenen Radweg, inklusive separater Abbiegespuren. Am Anfang wirken die vielen Spuren abschreckend, geradezu kompliziert. Niemand hupt. Niemand drängelt. Okay, einen Wermutstropfen gibt es trotzdem: Die Fußgänger wurden bei der Planung offenbar vergessen. Kein Übergang in Sicht. Stattdessen sprinten einige Fußgänger in waghalsigen Manövern über die Straße.
Kreuzberg
Auf der Skalitzer Straße regiert der motorisierte Verkehr und damit sind keine E-Bikes gemeint. "Radfahrer-Hölle" nennt Katja Täubert die Hauptstraße, auf der es im Ringen mit anderen Verkehrsteilnehmern mächtig eng wird. Einen Radweg gibt es zunächst nicht; stattdessen fahren Linienbusse so dicht auf, dass sie uns mit der Stoßstange fast berühren. Der geringste Fehler könnte jetzt zur Katastrophe führen. Das Standard-Problem, der tote Winkel beim Abbiegen, ist hier ebenfalls zu finden. Bereits elf Radfahrer sind in diesem Jahr in Berlin tödlich verunglückt (Stand: 22 August). Schuld sind häufig Lkw, die beim Rechtsabbiegen die Radfahrer schlicht übersehen.
Warschauer Straße
Auf dem Rückweg nach Friedrichshain entspannt sich die Lage. Die untergehende Sonne lässt die Spree glitzern. Aus den Cafés am Straßenrand dringt Musik. Der Duft von Grillwürstchen liegt in der Luft. Sogar die B96a (Höhe Warschauer Straße) zeigt sich von ihrer besten Seite, denn ein neuer Radweg bietet uns ausreichend Platz. Aggressive Autofahrer oder Kampfradler? Fehlanzeige! Doch zu früh gefreut. Selbst die besten Radwege nützen nichts, wenn sie unbefahrbar sind. Wieder parken gleich mehrere Transporter auf unserer Spur obwohl nur ein paar Meter weiter eine Haltebucht für Lieferanten ausgewiesen ist. Es folgt das altbekannte Prozedere: Arm raus, Schulterblick und aufs Beste hoffen. Und dann: Kräftig in die Pedale treten!
Fazit: Ist die Situation wirklich so schlimm, wie die Mitglieder des "Volksentscheids Fahrrad" behaupten? Oder handelt es sich um Jammern auf hohem Niveau? Bei unserer Testfahrt zeigte sich, dass es in Berlin durchaus vorbildliche Straßenführungen gibt, von denen alle Verkehrsteilnehmer profitieren. Klar ist aber auch: Von Leuchtturmprojekten wie dem Kreisverkehr am Moritzplatz oder einzelnen Fahrradstraßen haben Berufspendler nur dann etwas, wenn ihr Weg tatsächlich dort entlangführt. Noch immer gibt es zu viele Stellen, an denen bei Fahrradfahrern der Puls in die Höhe schnellt. Zu tun bleibt also auf jeden Fall etwas. Was genau, wird die Politik nach der Wahl entscheiden müssen.
Von Steve Przybilla
Info:
Das sagen die Parteien zum "Volksentscheid Fahrrad"
SPD: Grundsätzlich besteht kein Dissens zwischen den Zielsetzungen der Initiative "Volksentscheid Fahrrad" und der vom SPD-geführten Senat verabschiedeten Berliner Radverkehrsstrategie, die Forderungen bauen vielmehr auf den in der Radverkehrsstrategie definierten Maßnahmen auf.
Grüne: Wir unterstützen den Radentscheid, denn er greift viele Ideen auf, für die wir schon lange kämpfen. Dazu zählt das Fahrradstraßennetz, sicherer Radverkehr an Hauptstraßen oder der Umbau von Kreuzungen. Nach Jahren ohne Taten ist klar: Berlin braucht uns Grüne, damit sich etwas tut.
CDU: Das Fahrrad gewinnt in Berlin immer mehr an Bedeutung. Wir wollen den Radverkehr fördern und verbesserte Bedingungen schaffen. Gleichzeitig ist uns jedoch wichtig, dass es einen fairen Mix und damit ein faires Miteinander aller Verkehrsteilnehmer gibt. Wir wollen nicht, dass verschiedene Mobilitätsarten gegeneinander ausgespielt werden.
Linke: Wir unterstützen grundsätzlich den Volksentscheid. Die Ziele müssen aber mit der gesamtstädtischen Verkehrsplanung in Übereinstimmung gebracht werden. Deshalb haben wir Zweifel, ob alle Ziele in dem anvisierten Zeitraum realisierbar sind.
FDP: Die FDP Berlin unterstützt alle Forderungen, die den Bürgern die Wahlfreiheit bei der Auswahl ihrer Verkehrsmittel lassen und nicht zulasten des Öffentlichen Nahverkehrs, Pkw-Verkehrs und des Güterverkehrs gehen (...). Dabei setzen wir auf realistische und an den Wünschen der Bürger orientierte Lösungen und lehnen jede ideologisch motivierte Steuerung ab.
AfD: Es gibt einige Punkte des Volksbegehrens, mit denen ich mich anfreunden kann. Zum Beispiel härtere Maßnahmen gegen Fahrraddiebstahl. Insgesamt lehne ich es aber ab, da es Fahrradfahrer gegen andere Verkehrsteilnehmer ausspielen soll.
Piraten: Wir unterstützen den Volksentscheid Fahrrad aktiv und engagiert. Die grundsätzlichen Ziele finden unsere volle Unterstützung. Wichtig ist, dass Radwege preisgünstig und schnell geschaffen werden. Es gibt hierfür praktikable Lösungen, packen wirs einfach an!
POLITIK
Steve Przybilla
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