Mangelnde Geschlossenheit und fehlende Balance waren im Vorjahr offenbar die wichtigsten Gründe für die enttäuschende Saison von Bayer Leverkusen. Von daher könnte Heiko Herrlich der richtige Trainer sein auch wenn er sich in der Bundesliga bisher noch nicht bewiesen hat.
Im Endeffekt schien dann doch alles logisch. Klar, zunächst war Heiko Herrlich nicht die erste Wahl der Bosse von Bayer Leverkusen gewesen. Nach dem viel zu langen Festhalten an Roger Schmidt und dem Fehlgriff mit Tayfun Korkut standen auch sie unter Druck. Der nächste Schuss auf dem Trainer-Markt musste sitzen. Und weil Bayer als zuvor viermaliger Champions-League-Teilnehmer in Folge einen Namen hat und nach Platz zwölf unbedingt auch wieder nach Europa zurückwill, orientierten sich Sportchef Rudi Völler und Co. zunächst an den großen Namen auf dem Trainermarkt. Zwei Absagen auf konkrete Anfragen habe er bekommen, bestätigte Völler am Ende. Ob es die von Lucien Favre und Thomas Tuchel waren, ist nicht bekannt. Doch zum Kandidatenkreis zählten der ehemalige Gladbacher und der frühere Dortmunder auf jeden Fall.
Quasi seit Schmidts Entlassung Anfang März hatten die Bayer-Bosse Zeit, einen neuen Trainer zu suchen. Denn dass Korkut nur eine Übergangslösung sein würde, war von Anfang geplant und bestätigte sich schnell. Dennoch dauerte es bis drei Wochen nach Saisonende, ehe Völler die entscheidende Idee hatte und Heiko Herrlich ansprach. Drei Tage später wurde dieser als neuer Trainer vorgestellt. Und so manch einer fragte sich: wieso denn ausgerechnet der?
Ja, Herrlich hat als Trainer nur einmal in einer der beiden ersten Ligen gearbeitet, und damals scheiterte er in Bochum relativ gnadenlos. Doch bei näherem Hinsehen ist seine Verpflichtung, wie gesagt, durchaus logisch. Denn Bayers Team aus dem Vorjahr scheiterte nicht an seiner sportlichen Qualität. Es brauchte trotz vieler junger Spieler keinen Taktik-Fuchs. Eher einen, der sie nach dem Schmidtschen Dogmatimus aus ihrer Starre befreite. Sie brauchten einen Trainer, der zu ihnen vordringt, der ihnen den Teamgedanken vermittelt. Und dafür scheint Heiko Herrlich der richtige Mann. Da er als Spieler seine Karriere als 18-Jähriger in Leverkusen begann, hat er bei seiner Rückkehr 27 Jahre später auch einen großen Vertrauensvorschuss bei den Fans.
In Hakan Calhanoglu und Chicharito hatte Bayer für viel Geld Spieler ziehen lassen, die als herausragende Einzelkönner galten. Und holte dafür vor allem Kämpfer, die vorangehen. Sven Bender, den Zwillingsbruder von Bayer-Kapitän Lars, Spitzname "Eisen-Manni". Und den einst nach Augsburg abgegebenen Dominik Kohr. Spitzname "Hard Kohr".
Zum Anfang machte Herrlich dann auch sofort klar, dass sein Ansatz bei der Einstellung liegt. "Wichtig ist nicht, was hinten auf dem Trikot steht", sagte er immer wieder. "Wichtig ist, was vorne draufsteht. Da steht der Verein, hinten steht der Name. In ein paar Jahren werden hinten andere Namen draufstehen. Aber der Verein wird immer bleiben." Mancher mag dies als Phrasen erachten, doch Herrlich schafft es dank großer Leidenschaft und Überzeugung, die Spieler damit zu erreichen.
Dies liegt an seiner Eloquenz, aber auch an seinem großen Erfahrungsschatz. Seine Erlebnisse als Trainer abseits von Bochum reduzieren sich auf die DFB-Junioren um das damalige Talent Toni Kroos, auf Nachwuchs-Teams von Borussia Dortmund und Bayern München sowie ein Drittliga-Engagement bei der SpVgg. Unterhaching und einen Job bei Jahn Regensburg. Die Oberpfälzer hatte er aber im Dezember 2015 übernommen. Er schaffte den Aufstieg in die Dritte Liga und marschierte mit dem Saisonziel Klassenerhalt direkt in die Zweite Liga durch. Solche sportlichen Ausrufezeichen braucht man eben auch, damit große Vereine auf einen aufmerksam werden.
Doch viel zu erzählen hat Herrlich auch unabhängig davon. Schließlich hat er mit 45 Jahren so viel erlebt, wie manche in einem ganzen Leben nicht. Als Profi war er Nationalspieler, Bundesliga-Torschützenkönig und Champions-League-Sieger. Er war aber auch mal eine Persona non grata, weil er den Wechsel von Mönchengladbach nach Dortmund mit aller Macht durchsetzte. Und vor allem hat er einen schlimmen Schicksalsschlag hinnehmen müssen: Im Herbst 2000 wurde bei ihm ein Hirntumor diagnostiziert. Herrlich konnte nicht operiert werden. Der Tumor saß so ungünstig, dass er nach einer Operation wohl schwerstbehindert gewesen wäre. Er wurde durch eine Bestrahlung trotzdem geheilt. "Ich nahm sieben Kilo ab. Ich konnte nichts mehr schmecken, nichts mehr riechen. Mir fielen die Haare aus. Jeden Tag ging wieder ein Stück Lebensqualität flöten", sagte er dem Magazin "11 Freunde". "Ich fiel in eine schwere Depression. Ich wurde zum Hypochonder. Hatte ich irgendwo ein Zwicken, dachte ich: Mein Gott, jetzt hast du auch noch Leberkrebs! So ging das ein halbes Jahr lang. Die schlimmste Zeit meines Lebens."
Er kämpfte sich zurück und stand ein Jahr später sogar wieder auf dem Platz. Zur alten Form fand er danach nicht, doch dass er seine Karriere erst 2004 beendete, war ein großer Sieg. Jemand, der solche Dinge erlebt hat, weiß, wovon er spricht im Leben. Schafft es, in einem hektischen und überhypten Geschäft voller Selbstdarsteller nicht zu hyperventilieren. Hinzu kommt seine nach eigener Auskunft größte Stärke: "Ich kann gut beobachten".
Und die Fähigkeit, auch sich selbst zu öffnen. Dem "Kicker" erzählte Herrlich zum Beispiel, dass die Kollegen ihm beim ersten Trainingslager damals als Teenager in Leverkusen die Borsten der Zahnbürste abschnitten und er daraufhin weinend an der Tür von Trainer Jürgen Gelsdorf klopfte. Jemand, der solche Dinge erzählt, in einer Zeit und einem Geschäft, in dem kaum jemand sich traut, Schwächen zu zeigen, ist authentisch und glaubwürdig. Und genau das ist es, was das Bayer-Team nun braucht. Aber Herrlich will nicht zaubern und philosophieren. Er nutzt im täglichen Gespräch mit den Spielern und den Medien zahlreiche Bilder und Geschichten. Doch sie dienen vor allem einem Ziel: die Dinge zu vereinfachen.
"Als sie mit fünf oder sechs Jahren angefangen haben, hat sich keiner überlegt, wie mache ich mir die Haare, welches Tattoo lasse ich mir stechen oder welche Farbe haben meine Schuhe", sagte er zum Beispiel über seine Profis. "Am Anfang auf dem Schulhof oder in der F-Jugend stand das Gemeinschaftsgefühl. Das ist bei dem ein oder anderen vielleicht etwas verschüttet gegangen. Das müssen wir wieder freilegen." Denn: "Ich habe noch nie eine Mannschaft gesehen, die einen Pokal gewonnen hat und nachher sagte: Wir konnten uns eigentlich gar nicht leiden." Das Bayer-Team müsse die Haltung ändern. Zumal auch Nationalspieler Kevin Volland mit Blick auf die vorherige Saison bestätigte: "Vom Teamgedanken her geht es noch ein bisschen enger. Wenn Gegenwind kam, wenn ein bisschen Druck aufkam, dann sind wir oft auseinandergebrochen."
Auch mit sowas kennt Herrlich sich aus. "1999/2000 in Dortmund waren wir auch keine Mannschaft", erzählte er. "Da haben auch viele ihr eigenes Ding gemacht. Ich habe also Erfahrung damit." Von seinen Spielern erwartet er aber nun nicht zwangsläufig, dass sie beste Freunde werden und auch ihre Abende miteinander verbringen. Zwar scharte er sein Team im Trainingslager zu einer spontanen Bergwanderung um sich, gemeinsam besuchte man mit Kittel und Laborbrille das neue Bayer-Kommunikationszentrum. "Aber die Mutter aller Teambuildung-Maßnahmen ist das Stellungsspiel", sagte Herrlich. "Ob die Spieler miteinander rausgehen, ist für mich nicht wichtig. Wenn einer Einzelgänger ist, ist das okay. Aber wenn er Diener auf dem Platz ist, ist das das Wertvollste überhaupt." Das sei elementar, denn "Fußball nähert sich immer mehr dem Handball an. Alle greifen an, alle verteidigen." Dieses Gefühl war bei Bayer zuletzt verloren gegangen. Sollte ein Ausgleich dieser fehlenden Balance der Schlüssel sein, um in die Erfolgsspur zurückzufinden, ist Heiko Herrlich wohl der richtige Mann am richtigen Platz.