Schon 2011 wollte der Deutsche Tennisbund (DTB) in bessere Zeiten aufbrechen. Doch das Herrentennis stagniert seit Jahren. Auch, weil der DTB mit zweierlei Maß misst.
Es scheint, die Zukunft des deutschen Herren-Tennis hängt an einem, der lieber noch teeniemäßig ungeschickt "herumschnöselt": Alexander Zverev heißt der 19-jährige Hamburger, Spitzname Sascha, der von einer hochpolierten Vermarktungsagentur in Sachen Image nennen wir es "etwas ungünstig" beraten wird. Dennoch wurde er von seinen Kollegen fast zum "most improved" Spieler des Jahres gewählt: Ein Aufstieg von Platz 83 auf 24, im Oktober sogar Rang 20, in der ATP-Weltrangliste ist eine gewaltige Leistung und brachte Sascha die beste Teenager-Platzierung des Jahres auf der Tour ein. Hinzu kamen: Sieg in St. Petersburg als jüngster Deutscher seit Boris Beckers Turniersiegen als Jugendlicher, zwei Finalteilnahmen, bester Deutscher auf der Setzliste für Melbourne. Beeindruckende 44 Spiele gewann der fast zwei Meter große Hüne 2016. Sechs Spiele mehr in diesem Jahr, und der dann 20-Jährige, zu dessen Fans Ex-Wunderkind Rafael Nadal gehört, könnte 2017 in den Top Ten beenden. Besonders gut stünden seine Chancen, wenn er von einem, der schon mit 17 Jahren Wimbledon gewonnen hat, betreut und aus dessen Erfahrungen rund um den Tenniszirkus lernen würde: Boris Becker ist nach seiner Trennung von Novak Djokovic bei den Australian Open auf der Suche nach einem neuen Schützling, den er als Mentor betreuen will. Voraussetzung: Top-Talent. Gerne auch weiblich. Angelique Kerber sieht er mit Torben Beltz, vom DTB als "Trainer des Jahres" gefeiert, bestens versorgt. Bliebe Sascha, der jedoch "bei seinem Vater und seinem Bruder in besten Händen" sei. "Novak hat mich mit 26 Jahren angerufen, Sascha ist deutlich jünger", machte Becker seine Unlust auf jugendliche Unberechenbarkeit deutlich.
Alle Hoffnungen ruhen auf Zverev
Der Deutsche Tennis Bund (DTB), froh endlich wieder einen jugendlichen Ausbrecher aus der Mittelmäßigkeits-Depression zu haben, arrangiert sich mit Alexanders Ego-Trips. Vom Verband verlautete, Sperren gegen die Brüder Alexander und Mischa Zverev werde es nicht geben, nachdem die für das wichtige Relegationsspiel im Davis Cup gegen Polen unmittelbar nach den US Open nicht zur Verfügung gestanden hatten. Mit anderen Publikumslieblingen, die den Nachwuchs fürs Tennis begeistern könnten, wird weniger pfleglich umgegangen. DTB-Vize Dirk Hordorff schimpfte vergangenen September über den Unterhaltungskünstler Dustin Brown, der die Davis Cup-Partie ebenfalls abgesagt hatte: "Das ist Rosinenpickerei, wenn man bei strahlenderen Erstrundenpartien dabei ist und sich dann dem Abstiegskampf verweigert".
"Brown wird nicht nominiert"
Der 32-jährige Deutsch-Jamaikaner, der es als Autodidakt immerhin ins Mittelfeld auf Rang 68 der ATP-Wertung schaffte, konterte auf Twitter: "Wenn ich nicht 100 Prozent fit bin und beim Challenger verliere, ist das mein persönliches Risiko. Wenn ich aber beim Davis Cup antrete, könnte Deutschland verlieren. Darüber hinaus sollte der DTB den Ball besser flach halten, ohne jegliche Förderung meiner Person früher oder heute. Wenn ich meine Interessen nicht vertrete, wer dann?" Anders sieht es bei Sascha Zverev aus, der davon abgehalten wurde, im Davis Cup für den russischen Verband anzutreten. Hordorff im Interview mit tennisnet.com: "Zverev, das will ich nicht vergessen, wird auch im Zusammenwirken mit dem DOSB gefördert. Auch über das Jahr 2016 hinaus".
Betontes Verständnis für die Interessen von Sascha äußerte der Bundesverband bei der Davis-Cup-Nominierung für die erste Partie 2017. "Alexander Zverev brauchte damals eine Pause, er wollte auch nicht mehr auf Sand spielen", sagte DTB-Sportdirektor Klaus Eberhard im Dezember in Hamburg. Der 19-Jährige, der für den DTB die derzeit einzige Hoffnung für einen zukunftsträchtigen Ausbruch aus dem Mittelmaß verkörpert, habe an dem betreffenden Wochenende kein Turnier gespielt und sich korrekt gegenüber dem Verband verhalten: "Ich gehe davon aus, dass er im Februar spielen wird." Anders sehe es bei Dustin Brown aus: "Er war fest vorgesehen und wird nächstes Jahr nicht von uns nominiert werden". Der DTB wolle mit seiner "stärksten Formation" in das Erstrunden-Match im Davis Cup gegen Belgien vom 3. bis 5. Februar dieses Jahres in Frankfurt/Main gehen. "Generell plane ich mit der stärksten Mannschaft gegen Belgien anzutreten, alle wollen spielen", bekräftigte Teamkapitän Michael Kohlmann.
Ob das so bleibt? Zunächst geht es für die (Ex)-Davis-Cup-Spieler für ihre persönlichen ATP-Wertungen nach Down Under. Wie die Zverev-Brüder, Florian Mayer, Jan-Lennard Struff und Tommy Haas darf Dustin Brown bei den Australian Open dabei sein, weil er zu den Top 100 der Welt gehört. Florian Mayer hatte 2016 in Halle das zweite bedeutende Turnier seiner Karriere gewonnen und sich vom verletzungsbedingten Rang 192 auf Platz 80 verbessert. Eigentlich hätte der 33-Jährige in diesem strahlenden Moment, in dem er Youngster Alexander Zverev besiegte, seine Karriere beenden wollen. Doch der Auftritt des Bayreuthers in Melbourne könnte ein neuer, persönlicher Aufbruch werden.
Auch andere "Oldies but Goldies" kehren zurück ins Hauptfeld der großen Turniere. Mischa Zverev, älterer Bruder von Sascha, der 2009 selbst noch auf Platz 45 der ATP-Wertung als Hoffnungsträger gehandelt wurde, erlebt einen zweiten Frühling. Der 29-Jährige war im Oktober 2016 das erste Mal seit 2011 wieder unter den Top 100 der besten Tennisspieler zu finden, verbesserte sich um 120 Plätze auf Position 51 zum Jahresende. Der 38-jährige Tommy Haas will nach neun Operationen und langer Pause wieder durchstarten, bei seinem 888. Match noch einmal auf einem Center Court "richtig gutes Tennis" zeigen. Um bei einem seiner Lieblings-Events dabei zu sein, hat der Weltranglisten-Zweite von 2002 von seinem Protected Ranking (ATP 25) Gebrauch gemacht. Dauert die Verletzung sechs Monate oder länger, kann der Betroffene dies beantragen, um anschließend nicht mit einer sehr viel schlechteren Weltranglistenposition in den Turnierbetrieb einsteigen zu müssen. Dreimal zog Haas in seiner 20-jährigen Karriere in Melbourne schon ins Halbfinale ein, könnte Jüngere mit seiner Beharrlichkeit mitreißen.
Philipp Kohlschreibers Aufbruch von Platz 34 auf Platz 22 im Juni/Juli der vergangenen Saison, mündete in die Rückkehr auf Rang 32 nach Erstrundenpleiten bei den Grand Slams und einem Ermüdungsbruch bei den Olympischen Spielen. Der 33-Jährige steht für Beständigkeit, die aufgrund vieler Verletzungen nicht mehr dazu angetan ist, zum Karriereende noch nach den Sternen zu greifen.
Ein Aufbruch der Herren Richtung Nummer Eins ist für 2017 nicht in Sicht. Im Novembergrau des Jahres 2016 stellte die Mitgliederversammlung des Deutschen Tennisbundes die "Weichen für eine erfolgreiche Zukunft". Deren Inhalt, quasi als Kontrast zu schrumpfenden Angeboten für Spieler und zu wenigen Punktspielen für die Nachrücker: den Nachwuchs früher und intensiver fördern, die Bundesstützpunkte stärken, die vorhandenen Mittel effektiver einsetzen, "um weiterhin den besten Tennisnationen der Welt auf Augenhöhe zu begegnen", so der Wortlaut einer Verbandsmitteilung.
DTB-Präsident Ulrich Klaus sagte, dass sich aus der Aufbruchsstimmung ein Aufschwung entwickelt habe. DTB-Vize Hordorff relativierte die schönen Jahresend-Worte bereits im April 2016 im Interview mit tennisnet.com vorneweg: "Gleichwohl werden wir nicht mit Grand-Slam-Nationen mithalten können, die Millionen um Millionen ins Fördersystem pumpen". Das liegt an alten Versäumnissen. Boris Beckers Wimbledonsieg 1985 löste einen riesigen Tennisboom in Deutschland aus. Tennisplätze, Tennishallen, Trainingszeiten waren heiß begehrt. Der Ehrenamtlichen-Verband DTB scheiterte daran, der riesigen Nachfrage ein passendes Angebot entgegenzustellen. Gelder, Sponsoren- und Fördermöglichkeiten wurden vertan. Im Spitzenjahr 1994 waren noch 2,3 Millionen Menschen im Deutschen Tennisbund organisiert, 2015 nur noch 1,4 Millionen.
Der Kerber-Boom greift noch nicht so richtig, auch wenn sich wieder mehr Kinder und Jugendliche zum Training aufrappeln. Doch die Möglichkeiten, den weißen Sport zu erlernen und auszuüben, werden immer weniger. Viele Plätze weichen in den Städten Wohn- und Bürogebäuden. Die Anfahrtswege für den Nachwuchs werden zu weit und schwierig, die Gebühren, die Vereine für die Hallennutzung verlangen, zu hoch. Aufbruch aus dem Mittelmaß? Bei mittlerem Alter der Mehrzahl der Hoffnungsträger und unterschiedlichem Fördermaß fraglos schwierig.
Von Annegret Handel-Kempf