Angelique Kerber ist Titelverteidigerin beim ersten Grand Slam der Saison und amtierende Weltranglistenerste. Hinter ihr ist reichlich Luft für weitere deutsche Damen auf dem Weg nach oben. Es gibt wieder Aufsteigerinnen.
Knapp fünf Jahre ist es her, da freute sich die Tennis-Nation, dass erstmals seit 1988 wieder vier deutsche Damen zu den besten 20 der Tennis-Weltrangliste gehörten: Andrea Petkovic war im Februar 2012 die beste der "Wunder"-Riege auf dem zehnten Rang. Sabine Lisicki folgte auf Platz 13. Julia Görges war als 19. zurück unter den Top 20 und Angelique Kerber als Nummer 20 so gut platziert wie nie zuvor in ihrer Karriere. Mit Kerber ging es 2012 weiter nach oben, bis in die Top Ten. Sie trat aus dem Schatten von Petkovic, Lisicki und Görges heraus. Die drei hatten sie spielerisch lange Zeit in den Hintergrund der heimischen Tennishoffnungen gedrängt.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Trotz aller Ambitionen, endlich die ultimativen Erfolge zu erreichen, gelang dies allein Kerber, der aktuellen Nummer eins der Weltrangliste. Lange Schatten liegen über den Karrieren der anderen einstigen Golden Girls in spe. Die drei genannten ehemaligen Wundermädchen gehen mittlerweile alle auf die 30 zu und rutschten in der WTA-Wertung weit hinter Position 30 zurück. Lisicki (Platz 92) gelang kurz vor dem Jahreswechsel die Rückkehr in die Top 100, Görges rangiert auf Position 53, Petkovic auf 55.
Immerhin sind die drei Damen für das Hauptfeld der Australian Open 2017 gesetzt. Lisicki, die 2012 bis ins Achtelfinale der Australian Open kam und 2013 sogar im Finale von Wimbledon stand, zitterte lange, ob sie dieses Mal in die Qualifikation muss. Auch Annika Beck und Anna-Lena Friedsam ersparten sich das mühsame Vorspiel zum ersten Grand Slam-Turnier des Jahres. Ebenfalls direkt im Hauptfeld starten Carina Witthöft und der zweite deutsche Shootingstar des Vorjahres, Laura Siegemund.
Tatjana Maria, Tamara Korpatsch, Antonia Lottner und Mona Barthel, neue oder wiedererstarkte Hoffnungen der deutschen Damentennis-Szene, müssen Down Under in den sauren Apfel beißen und durch die Qualifikation.
Sie alle eint "Angies" Hoffnung, dass deren Sonne ein wenig auf die Schattenfrauen abstrahlt. Dass die Beharrlichkeitserfolge der Kielerin die weit hinter ihr Platzierten zu neuen Höchstleistungen verhilft. "Ich hoffe, dass der Tennis-Boom jetzt größer wird und sich dadurch auch die anderen motivieren können und mir das ein bisschen nachmachen", sagte Kerber. "Luft nach oben" sei bei ihren Kolleginnen aus dem Porsche-Team, das den (ehemaligen) Nachwuchs an die Weltspitze führen soll, befand Angie beim Blick von ihrer Spitzenposition aus.
Siegemunds Weg geht steil nach oben
Die Luft zum Hochkommen genommen hat die sympathische Nummer eins beispielsweise ihrer Freundin Andrea Petkovic sicher nicht. Die einstige Weltranglisten-Neunte ist auf der Suche nach dem großen Sprung nach oben, der die 29-Jährige zufrieden ihre Karriere abschließen lässt. Obwohl sie nach zweijähriger Verletzungspause in die Top Ten zurückgekehrt war, hatte sie daran gedacht, ihre Karriere zu beenden.
Petkovic ist auf der Suche nach einem neuen Trainer, der ihr hilft, ihren Kopf auf dem Platz aufs Spiel zu fokussieren. Nach gewonnenen Partien ohne Pleiten-Teufelskreis. Nach kräftig anstupsenden Wertungspunkten. 2016 stand "Petko" lediglich in Doha im Halbfinale. Mehr war nicht drin.
Ihren "zweiten Atem" für die sportlichen Routinen hat die Darmstädterin 2016 gefunden. Die Einser-Abiturientin gegenüber dem "SZ-Magazin": "Ich will gewinnen, ich genieße es, mich zu messen. Das sind die Momente, in denen ich das Leben am intensivsten spüre." Mit Angelique Kerber verbinde sie eine "schrankenlose" Freundschaft. Nach deren US-Open-Sieg sei sie gleich zum Tennis-Spielen mit ihrem Vater gegangen: "Es motiviert dich, wenn du siehst, was eine Freundin von dir erreicht. Mit wie viel Freude das verbunden ist."
Einen Motivator oder zumindest einen Trainer, mit dem sie auf Dauer gut zurechtkommt, sucht auch Sabine Lisicki seit den US Open. Salvador Navarro schien ihr geeigneter Partner auf dem Platz zu sein. Doch der Spanier hat sich nach einer dreimonatigen Testphase dafür entschieden, bei seiner Familie zu bleiben, statt mit ihr zu reisen. Zuvor war ihr Ex-Profi Christopher Kas nach 16 Monaten als Coach abhandengekommen. Als Vorbereitung für Melbourne suchte "Bum-Bum-Bine" Unterstützung in der Bollettieri-Akademie in Florida, ihrer alten Trainingsheimat. Ihr Ziel ist ihr erster Drittrunden-Einzug seit 2012 bei den Australian Open.
Eine erfolgreiche Selbstmotivatorin ist Laura Siegemund, die 2016 ihren Bachelor in Psychologie machte und zur Nummer zwei im Deutschen Damentennis wurde. Nachdem die 28-Jährige ihre Profikarriere eigentlich schon aufgegeben hatte, schoss die Rückkehrerin im vergangenen Jahr auf Rang 30 der Wertung vor. Sie gewann ihr erstes WTA-Turnier, kämpfte in Stuttgart im Finale gegen Angelique Kerber, wurde strahlende Zweite. Bei den Australian Open zog die Metzingerin im Vorjahr in die dritte Runde ein, ebenso bei den US Open. Nachdem sie zum Saisonende mit Mate Pavic im Mixed sogar die US Open gewann, hat die Schwäbin mit dem sonnigen Gemüt noch mehr Selbstbewusstsein, sich mit weiteren Damen der Top 30 hoffnungsfroh anzulegen.
Die Bürde der Erwartungen an ein Supertalent drückte lange Zeit Antonia Lottner nieder, die in den Jugend-Grand-Slams ganz vorne mitmischte. Doch dann kamen drei schlechte Jahre für die heute 20-Jährige, die sie teilweise auf Krücken verbrachte. Jetzt ist sie wieder fit, frei von überzogenen Erwartungen und betrachtet Petkovic lässt grüßen Tennis ganz schlicht als ihre große Liebe. Die gebürtige Düsseldorferin sucht sehr forsch die Nähe zum Netz. "Darin sehe ich ihren großen Vorteil", sagt Barbara Rittner über ihren ehemaligen U-12-Talentteam-Star, "dass sie ein bisschen anders Tennis spielen kann, als es heute meist üblich ist". Es geht nach oben für Lottner, ihre Bekanntheit wächst. Bei einer Top-200-Platzierung dürfte es bei der Australian-Open-Qualifikantin nicht lange bleiben, nachdem sie die Schattenseiten des Spielerlebens hinter sich gelassen hat.
Wo Schatten ist, da ist auch Sonne. Und die strahlt über den deutschen Damen insgesamt heller denn je in diesem Jahrtausend.
Annegret Handel-Kempf