Er war der König der Nacht. Mit seinem brillanten Singapur-Triumph führt Mercedes-Star Nico Rosberg wieder die WM-Wertung vor seinem Teamkollegen Lewis Hamilton an. War dieser Sieg die Wende im Titelkampf oder schlägt der Weltmeister zurück? Unabhängig von dieser Frage erzürnt ein rücksichtsloser Red-Bull-Pilot die Gemüter: Max Verstappen.
Nein, die "Akte Verstappen" ist noch lange nicht geschlossen. Durch das brisante Titelduell Rosberg gegen Hamilton ist das Thema um Max Verstappen nur etwas in den Hintergrund gedrängt. Der Niederländer polarisiert und spaltet das Formel-1-Fahrerlager nach wie vor.
Das Nachtrennen von Singapur wird der 18-Jährige nicht in bester Erinnerung behalten. Als Vierter gestartet, kam er nur als Sechster ins Ziel. Sein verschlafener Start warf Verstappen um Plätze zurück. Umso sehenswerter und beeindruckender sein actionreiches Duell mit dem Russen Daniil Kvyat. Der wehrte sich mit Händen und Füßen und allem was er hatte gegen den "fliegenden Holländer". Doch im letzten Renndrittel musste er seinen Nachfolger bei Red Bull Racing ziehen lassen. "Es war schwierig, ihn zu überholen, aber letztendlich konnte ich ihn doch noch schnappen, ebenso wie zahlreiche andere Piloten. Das hat richtig Spaß gemacht", so Verstappen im TV-Interview. Er hat es mal wieder mit der Brechstange versucht und mit Erfolg geschafft. Blicken wir auf einen anderen, den denkwürdigen Belgien-Grand-Prix mit Verstappens haarsträubenden Manövern zurück. Auch drei Wochen und zwei Rennen später sorgt dieses Rennen noch für viel Unterhaltung im negativen Sinn.
Bei 300 Sachen wechselte er die Spur
Mit seinen aggressiven, rücksichtslosen, rüpelhaften, kompromisslosen Attacken in den Ardennen hat Max Verstappen Gegner und Experten erzürnt. Insbesondere Kimi Räikkönen (Ferrari) und Rennikone Niki Lauda gingen mit dem Red-Bull-Piloten hart ins Gericht und ließen kein gutes Haar an dem Draufgänger. Helmut Marko, Motorsportberater bei Red Bull und Entdecker seines niederländischen Supertalents, fand vor dem Belgien-GP lobende Worte für das Wunderkind. "Das Selbstbewusstsein von Max ist unbändig", rühmte der Österreicher den "Jungbullen".
In Francorchamps war das kleine 18-jährige Milchgesicht der große Buhmann. Nach verschlafenem Start verursachte er Kollisionen und riskierte weitere Unfälle. In einem erbitterten Duell mit Kimi Räikkönen war Verstappen einfach nicht zu bändigen. Bei 300 Sachen wechselte der Draufgänger auf der Geraden die Spur. Räikkönen hatte jede Mühe, seinen Ferrari unter Kontrolle zu halten. Es ging um Platz 14. Nach dem Rennen prasselte jede Menge Kritik auf den "Unbändigen" ein. Mercedes-Oberaufseher Niki Lauda drosch verbal am heftigsten auf den "Jungbullen" ein. "Der Junge gehört in die Psychiatrie. Er schießt übers Limit hinaus. Diese aggressive Fahrweise geht nicht, so kann man nicht Formel 1 fahren und Rennen gewinnen. Er muss seinen Kopf einschalten, er gehört zurück in die Schule", wetterte die Rennikone gegen Verstappen. "Und er hat nach Fehlern überhaupt keine Einsicht, etwas falsch gemacht zu haben", stellte Lauda fest.
Nicht ganz so heftig äußerte sich Mercedes-Sportchef Toto Wolff: "Max fährt brutal. Bisher ist er nicht bestraft worden. Ich habe ein bisschen Angst, dass es irgendwann mal in der Wand endet, wir sind nicht mehr weit davon entfernt." Kimi Räikkönen, der mit viel Können und Coolness einen Unfall verhinderte, fürchtet, dass es irgendwann mal richtig kracht. Spürbar erhitzt prophezeite der "Iceman": "Früher oder später wird es passieren. Hätte ich nicht gebremst, wäre es zu einem heftigen Unfall gekommen." Der Finne bezeichnete die Fahrweise des Niederländers als "verdammt lächerlich". Über Funk fluchte er schon: "Er will mich nur von der Strecke treiben." Schon in Ungarn waren sich die beiden nicht grün und gerieten sich in die Wolle. Mit dem Messer zwischen den Zähnen verteidigte Verstappen seine Position und hielt den Ferrari-Routinier Räikkönen mit seinem spektakulären Fahrstil hinter sich und schmiss ihm auch in Budapest die Tür vor der Nase zu. Selbst im eigenen Stall löst das kompromisslose "Jahrhunderttalent" (Niki Lauda) Unbehagen aus. "Max ist eine tickende Zeitbombe", beschreibt der "alte Hase" Daniel Ricciardo seinen Stallkollegen. Sebastian Vettel zeigte sich dagegen ziemlich diplomatisch. "Ich mag Max, er ist aggressiv. Wir wollen es nicht dramatisieren. Allerdings sind einige seiner Manöver auch nicht so korrekt. Aber wir sind Männer und können miteinander reden", so der Ferrari-Pilot.
Uneinsichtig bleibt Verstappen und sagt selbstbewusst: "Es ist mir egal, was andere sagen. Ich hab nix falsch gemacht, sonst hätten die Stewards mich ja bestraft. Aber sie haben weder hier noch in Ungarn was unternommen. Also kann meine Fahrweise nicht so falsch sein." Weitere Erkenntnis des 34-maligen Grand-Prix-Starters: "Wenn die Leute über dich reden, dann machst du definitiv einiges richtig." Er kündigte an, "sich keinen Deut zu ändern. Ich fahre immer am Limit, nur so wird man erfolgreich". In einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur erklärte Verstappen seine Fahrweise so: "Auf der Strecke tue ich, was ich meiner Meinung nach tun muss. Ich fahre einfach Rennen, so wie ich es für richtig halte. Ich konzentriere mich nur auf mich und versuche auf der Strecke das Beste herauszuholen. Dazu gehört mal ein bisschen mehr Risiko, mal ein bisschen weniger. Dazu gehören auch Kompromisse."
"Max fährt brutal. Ich habe Angst, dass es in der Wand endet"
Rückendeckung erhielt der Buhmann von seinem Teamchef Christian Horner: "Max ist jung und schnell. All diese ambitionierten Fahrer haben mal solche Momente und haben den Kampfgeist in sich." Der Brite verglich seinen Schützling mit seinem ehemaligen Fahrer Sebastian Vettel. "Auch Seb wurde mal kritisiert, weil er sich kämpferisch gezeigt hat. Ich glaube aber auch, dass genau das einer der Gründe ist, warum so viele Fans von Max nach Francorchamps gereist sind." Verstappen, der die belgische und niederländische Staatsbürgerschaft besitzt, hatte bei dem mit 80.000 Zuschauern ausverkauften Ardennen-Rennen fast 60.000 in seinem Schlepptau.
Tenor der ganzen Verstappen-Diskussion ist aber auch: Gut, dass die Rennleitung nicht eingegriffen hat. Und gut, dass es wieder Fahrer mit den Zügen eines Senna oder Schumacher gibt. "Wenn man in diesem Sport ganz vorne sein will, dann muss man auch eine gewisse Brutalität zeigen", so Talentspäher Helmut Marko gegenüber Sky.
Kaum ein anderer Pilot polarisiert und spaltet derzeit das Fahrerlager so wie "Mad Max" (verrückter Max), wie er gerufen wird. Für ihn zählt nur, was am Ende auf der Strecke herauskommt. Mit dieser Einstellung wird man natürlich nicht Everybodys Darling aber Verstappen will ja auch nicht jedermanns Liebling werden. Mit 17 Jahren und 166 Tagen kam er in die Formel 1. Er hatte nicht mal einen Führerschein für den regulären Straßenverkehr. Mit 18 Jahren und 228 Tagen kürte er sich in diesem Mai in Spanien zum jüngsten Grand-Prix-Sieger der Formel 1 im ersten Rennen nach seiner Beförderung vom Red-Bull-Schwesterteam Toro Rosso in den "Bullen"-Rennstall. Der "Jungbulle" hat bewiesen, dass es nicht Jahre lang braucht, um zu siegen. Wie forsch er gleich in seinem ersten Jahr zur Sache ging, bewies der Rookie damit, dass ihn am Jahresende nur vier Punkte von einer Sperre trennten. Verstappens F1-Premierenjahr ging mit drei Strafpunkten und zwei Zeitstrafen im Finale von Abu Dhabi etwas unrühmlich zu Ende. Seinem Vater Jos, früher Teamkollege von Michael Schumacher bei Benetton, hat der Sohnemann jedenfalls schon den Rang abgelaufen. Vater Verstappen ist mit 106 Starts der Niederländer mit den meisten F1-Einsätzen. Zudem war er mit zwei Podestplätzen (dritter Platz in Ungarn und Belgien 1994) der erfolgreichste Holländer. Bis zum Spanien-Grand-Prix 2016, als Max ganz oben stand. In Spielberg/Österreich und Silverstone/England wurde Max jeweils Zweiter. Vor dem Rennen an diesem Sonntag (2. Oktober) in Sepang/Malaysia liegt Verstappen nach 15 von 21 WM-Läufen auf Rang sechs (129 Punkte) hinter dem Ferrari-Duo Vettel (155) und Räikkönen (148), Dritter der Zwischenwertung ist der Australier Daniel Ricciardo (179) im Red Bull.
An der Spitze tobt mit den zwei Mercedes-Piloten Rosberg (273) und Hamilton (265) der Kampf um den Titel. Nur acht Punkte trennen die beiden Alphatiere. Mit drei Siegen in Folge (Belgien, Italien, Singapur) kommt der Deutsche mit einem Triple an Premieren-Erfolgen überragend stark aus der Sommerpause. Erstmals seit Silverstone hat der 31-Jährige wieder das Ruder herumgerissen und die WM-Spitze von seinem ärgsten Rivalen zurückerobert. Rosberg erzielte bei seinem
200. Grand-Prix-Start den 22. Sieg seiner Karriere, den achten bislang in dieser Saison. "Es ist immer einfacher, wenn man mit einem Sieg im Rücken zum nächsten Rennen geht als mit einer Niederlage. Ich fühle mich gut und will auch in Malaysia gewinnen", sagt Rosberg voller Zuversicht. Hamilton klammert sich an die Vergangenheit. "Ich war in der ersten Saisonhälfte schon 43 Punkte zurück und bin wiedergekommen. In Malaysia kann sich wieder alles zu meinen Gunsten drehen", macht sich der dreimalige Champion Mut. Fakt ist: In der Formel 1 dreht sich (fast) alles um die Mercedes-Alphatiere und vieles um den "Jungbullen" Max Verstappen.
Walter Koster