Die Chancenverwertung verhagelte der deutschen Nationalmannschaft bei der EM in Frankreich den Einzug ins Finale. Anschließend kritisierte Thomas Müller öffentlich den "Stürmer"-Mangel in Deutschland. Ist der klassische Mittelstürmer tatsächlich ein vom "Aussterben" bedrohter Spielertyp? Eine Analyse.
Früher war sowieso alles besser. Damals, als es noch echte Mittelstürmer gab. Als Gerd Müller im Strafraum einfach jeden Ball versenkte, Kopfball-Ungeheuer Horst Hrubesch seine Gegner das Fürchten lehrte oder Jürgen Klinsmann so schön jubelte, wie kaum ein anderer. Müller, Hrubesch, Klinsmann oder Miroslav Klose das waren deutsche Mittelstürmer vom alten Schlag, Mittelstürmer von Weltklasse-Format. Und heute?
Mit Mario Gomez erlebte der gute, alte Mittelstürmer in der Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft in Frankreich ein echtes Revival aber nur bis zu seiner Verletzung. Echte Alternativen als sogenannter Wandspieler oder Strafraumstürmer waren Fehlanzeige. "Natürlich haben wir in dieser zentralen Position zu wenig Optionen. Das ist ein grundsätzliches Problem", kommentierte ausgerechnet Thomas Müller vor kurzem in der "Bild"-Zeitung. Müller, der Proto-Typ eines Offensiv-Allrounders, aber kein Gomez oder Klose, eben kein klassischer Mittelstürmer. Ist der zentrale Stoßstürmer in Deutschland tatsächlich vom "Aussterben" bedroht?
Warum sind wir auf diesem Teil des Feldes nicht mehr "Weltklasse"? Um eines vorwegzunehmen: Andere Nationen beneiden uns zutiefst um derartige Luxusprobleme. Schließlich verfügt kaum ein anderes Nationalteam über so viele Variationsmöglichkeiten im Angriff wie "La Mannschaft". Und auch deshalb ist Deutschland übrigens vor gerade einmal zwei Jahren Weltmeister geworden.
Thomas Müller liefert einen ersten Erklärungsansatz für die "Stürmermisere" in Deutschland höchst selbst: "Das Fußballerische und Technische stand zuletzt in der Ausbildung im Vordergrund. An solchen Spielern haben wir ein Überangebot", stellte Müller fest. Oder anders gesagt: Die Anforderungen an einen Stürmer im Fußball werden immer komplexer. Lucien Favre spricht gerne von einem "polyvalenten Spieler". Das sind Spieler, die aufgrund ihrer ausgeprägten fußballerischen und athletischen Fähigkeiten der Komplexität des Spiels gerecht werden und die auch verschiedene Positionen bekleiden können und damit dem Trainer andere taktische Möglichkeiten geben. Als Mittelstürmer reicht es heutzutage nicht mehr, nur eine gute Torquote aufzuweisen. Es geht nicht alleine darum, sich im "Eins gegen Eins" durchzusetzen und mit einer starken Chancenverwertung zu glänzen. Ein Stürmer muss in den entsprechenden Situationen auch den Ball halten können, Spielübersicht beweisen, immer anspielbar sein und vor allem auch seine Aufgaben in der Arbeit gegen den Ball erfüllen. Besonders dieser Aspekt wird im modernen Fußball immer wichtiger. Läuferisch muss ein Stürmer heute viel mehr leisten als noch vor zehn oder 15 Jahren auch weil sich die Systematik des Fußballs geändert hat. Viele Vereine wie etwa der FC Barcelona und auch Trainer wie etwa Pep Guardiola verfolgen eine klare Philosophie und damit verbunden auch ein Spielsystem.
Die Anforderungen an die Stürmer werden immer komplexer
Wenn ein Spieler nicht in dieses System passt, passt er auch nicht zum Verein oder zum Trainer und muss sich eine neue Herausforderung suchen. Zudem ging gerade bei Barca, dem Trendsetter für attraktiven und erfolgreichen Ballbesitzfußball, die Tendenz weg vom klassischen Mittelstürmer hin zu variablen und spielstarken Angreifern. Klingt nachvollziehbar. Doch zum Glück ist der Fußball nicht eindimensional, nicht monothematisch und so ist auch der Mittelstürmer weiterhin gefragt. Auch oder gerade in Deutschland.
Erst recht nach einer Europameisterschaft, bei der die Mannschaft ausschied, obwohl sie Chancen genug hatte, um den Pokal gleich zweimal zu holen. Dabei verfolgt gerade die deutsche Nationalmannschaft ein für die Spieler ausgesprochen anspruchsvolles System. Der Ballbesitzfußball, den Deutschland spielt, braucht schnelle, wendige und technisch exzellent ausgebildete Spieler, die auch alle Facetten des Pressings oder Gegenpressings beherrschen. Da kann ein klassischer Strafraumstürmer, ein bulliger Angreifer der Marke "Eiche rustikal", manchmal nicht mithalten. Er hat seine Stärken im gegnerischen Strafraum, ist dort zwar kaum vom Ball zu trennen, aber auch häufig darauf angewiesen, dass er von seinen Mannschaftskameraden geschickt eingesetzt wird. Der Trainer muss letztlich die Frage beantworten, ob er sich für einen spielstarken, wendigen und antrittsschnellen Stürmer entscheidet, der auch im Umschaltspiel wertvolle Akzente setzen kann, oder ob er auf den klassischen Goalgetter setzt. Dieser ist im Idealfall ein Typ wie Robert Lewandowski und agiert neben seiner Präsenz im Strafraum auch noch ungeheuer mannschaftsdienlich.
Robert Lewandowski
ist ein "Idealfall"
Doch Spieler von der Klasse eines Robert Lewandowski lassen sich "nicht im Planungsbüro bestellen" (O-Ton Thomas Müller). Am Ende liegt die Wahrheit wie immer in der Mitte. Für gewisse Phasen und besondere Situationen im Spiel, wie einer Aufholjagd in der Schlussphase, kann ein Strafraumstürmer genau die richtige Lösung sein. Mit einer gewissen individuellen Qualität ist diese Variante im Portfolio Gold wert wie zuletzt nicht nur Mario Gomez unter Beweis gestellt hat. Derartige Spielertypen aber besonders zu fördern oder sie gar "heranzüchten" zu wollen, dürfte sich als schwierig herausstellen.
Zum Beispiel hat Polen, weil sie Robert Lewandowski haben, nicht automatisch eine ausgezeichnete Nachwuchsarbeit in Sachen Strafraumstürmer. Ein Patentrezept für Mittelstürmer gibt es genauso wenig wie für Außenverteidiger auch diese könnte die deutsche Nationalmannschaft im Übrigen gut gebrauchen. Das von Mutter Natur gegebene Talent lässt sich zudem genauso wenig beeinflussen wie der Faktor Glück, der auch immer wieder eine Rolle spielt.
Es wäre wohl schon eine ganze Menge erreicht, wenn darauf hingewirkt wird, dass der klassische Mittelstürmer weiter eine ernstzunehmende taktische Variante bleibt. Dazu gehört zum Beispiel, dass Vereine und Trainer taktisch flexibel bleiben und auch die Ausbildung eines klassischen Mittelstürmers und dessen Stärken fördern. Schnelligkeit, Beweglichkeit und Spielwitz sind natürlich wichtig, und selbstverständlich muss sich jeder Profi mit den hohen athletischen Anforderungen des modernen Fußballs auseinandersetzen. Doch eine homogene Mannschaft lebt auch von unterschiedlichen Typen. Spieler der Marke Götze, Reus, Müller, Bellarabi, Draxler oder Brandt gibt es zur Genüge. Es geht auch darum, unberechenbarer zu werden vor allem als deutsche Nationalmannschaft. Womit wir wieder bei Thomas Müller wären: "Man sieht, dass es nötig ist, auch eine Strafraum-Stürmer-Variante zu haben", gibt dieser abschließend zu Protokoll. Wenn man die abgelaufene Europameisterschaft zugrunde legt, fällt es schwer, ihm zu widersprechen.
Marcel Meinert