Jürgen Klinsmann ist fünfter Ehrenspielführer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Viele finden das super, andere wiederum gar nicht.
Polarisiert hat Jürgen Klinsmann schon immer. Zu seinen Zeiten als Spieler schon sehr, in den Jahren als Trainer noch viel mehr. Entsprechend breit war die Palette der Fan-Reaktionen, nachdem bekannt wurde, dass der 52-Jährige der fünfte Ehrenspielführer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist. Er steht damit nun in einer kurzen und illustren Reihe mit Fritz Walter, Uwe Seeler, Franz Beckenbauer und Lothar Matthäus.
Die Liste der Kritik seitens der Fans, die in den sozialen Netzwerken teilweise Sturm liefen, war lang. Klinsmann sei ein "Söldner" gewesen, ein "teamunfähiger Egomane" und eben der "Diver", also der Schwalbenkönig. Und der "Flipper", also der, dem jeder Ball vom Fuß sprang. Er habe die Nationalmannschaft als Bühne für Machtspielchen benutzt, habe als Trainer beim Sommermärchen 2006 das Halbfinale gegen Italien vercoacht und damit den Titel verschenkt und habe bei seinem schnellen Scheitern als Trainer von Bayern München danach endgültig gezeigt, was er könne: nichts. Außerdem sei er ausgewandert in die USA und habe die Ehre allein schon deshalb nicht verdient.
In der Heimat
scheiden sich
die Geister
Dem gegenüber hielten die Fans viele Erfolge des gebürtigen Göppingers hoch. Er habe sich in 108 Länderspielen für das Nationalteam aufgeopfert. Sie erinnerten an die stolze Zahl von 47 Toren und an das WM-Achtelfinale 1990 gegen die Niederlande, als ihn das Unrechtsgefühl über den Skandal-Platzverweis gegen den von Frank Rijkaard angespuckten Rudi Völler zum Spiel seines Lebens antrieb. Sie verwiesen darauf, dass Klinsmann in der französischen Liga (bei AS Monaco), der italienischen (Inter Mailand, Sampdoria Genua) und der englischen (Tottenham Hotspur) spielte und dabei offenbar ein solch guter Botschafter war, dass er nach seiner einzigen Saison in der Premier League 1995 zu "Englands Fußballer des Jahres" gewählt wurde und noch heute bei den Spurs offiziell als Legende geführt wird. Und sie erinnerten daran, dass die Nationalmannschaft 2004 am Boden lag, als Klinsmann sie von Rudi Völler übernahm. Dass er den DFB entstaubte, viele veraltete Strukturen aufbrach und mit seinem frischen Wind das Sommermärchen 2006 erst möglich machte. Mit dieser Heim-WM meldete sich Deutschland in der Fußball-Weltspitze zurück, und die Fans entdeckten wieder die Liebe zu ihrem Team, die im Grunde bis heute anhält.
Aufschwung
bei der WM 2006
Fakt ist, abseits von der emotionalen Ebene: Klinsmann war als Weltmeister 1990 Stammspieler und Leistungsträger, vor allem aber war er beim bis heute letzten EM-Titel 1996 Kapitän. Allein letzteres, Spielführer bei einem großen Titel zu sein, rechtfertigt diese Auszeichnung. Die anderen Kapitäne bei den großen Erfolgen wurden mit einer Ausnahme alle ausgezeichnet: Walter (WM 1954), Beckenbauer (EM 1972, WM 1974) und Matthäus (WM 1990). Dass Philipp Lahm, der 2014 als Erster den WM-Titel in die Luft reckte, nach Ende seiner aktiven Karriere ebenfalls zum Ehrenspielführer ernannt werden wird, ist beim DFB längst beschlossene Sache. Der einzige Titel-Kapitän, dem diese Ehre nicht zuteil wurde, ist Bernard Dietz, der Chef beim EM-Triumph 1980. Er hat die Nationalelf nicht so geprägt wie all die anderen aus diesem Kreise. Viele Jugendliche heute können mit seinem Namen nichts anfangen – und das, obwohl der aufrechte Dietz 53 Länderspiele und drei Turniere absolviert hat.
Wie dem auch sei: Kapitän 1996 gewesen zu sein, macht Klinsmann zu einem logischen Ehrenspielführer. Und dass er nach seinen nur zwei Jahren als Bundestrainer der Vater der heutigen Erfolge ist, können selbst die kaum bestreiten, die ihn nach harten und unpopulären Entscheidungen als "Killer-Klinsi" bezeichneten.
Darin, Strippen zu ziehen, war Klinsmann zweifellos immer gut. Schon zu seinen Zeiten als Stürmer sollen seine legendären Machtkämpfe mit Lothar Matthäus die Mannschaft teilweise in zwei Lager zerlegt haben. Als er Bundestrainer wurde, entsorgte er ihm nicht passende Gefolgsleute wie Torwarttrainer Sepp Maier. Und vor der WM 2006 entschied er sich in der Torwart-Frage für den bei Fans kritisch gesehenen Vertrauten Jens Lehmann statt des Platzhalters und Publikumslieblings Oliver Kahn. Maier, der Klinsmann mal als "linken Schleimer" bezeichnete, schickte seinem langjährigen Schützling Kahn angeblich eine SMS mit den Worten: "Du kannst dir doch von diesem schwäbischen Dingsbums da deine zwölf Jahre als Weltklassetorhüter nicht kaputtmachen lassen". Der Einzige, den Klinsmann nicht entsorgt habe, sei der Koch gewesen, sagte Maier später. Und Intimfeind Matthäus stellte fest: "Jürgen geht über Leichen, um seine Ziele zu erreichen".
Einige seiner Entscheidungen mögen von Sympathien geprägt gewesen sein, von dem Wunsch, Vertrauensleute um sich herum zu scharen und vor allem, sich Kritiker vom Hals zu halten. Doch man muss auch feststellen: Klinsmann hat keine Scheu davor, der Buhmann zu sein, wenn er persönlich von Dingen überzeugt ist. Als im März 2006 nach einem 1:4 in Italien von zahlreichen Medien seine Ablösung als Bundestrainer noch vor der Heim-WM gefordert wurde und Präsident Theo Zwanziger schon einen Notfallplan mit Matthias Sammer als Nachfolger in der Schublade hatte, ging Klinsmann unbeirrt weiter seinen Weg. Vergaß die Kränkung aber nicht. Als er nach der sportlich wie emotional erfolgreichen WM gefeiert und ihm nach seinen legendären Kabinenansprachen, die im Kinofilm "Sommermärchen" zu sehen waren ("Wir drücken die durch die Wand", "Heute sind sie fällig"), als Motivator gehuldigt wurde, konnte ihn das nicht mehr umstimmen weiterzumachen. Klinsmann trat zurück. Freilich nicht, ohne den DFB und seinen bisherigen Assistenten Joachim Löw auf eigene Faust davon zu überzeugen, dass Löw Nachfolger werden muss. Ein Jürgen Klinsmann verlässt sich eben nicht einmal auf andere, wenn es darum geht, wer sein sportliches Erbe verwaltet.
Dieser Widerspruch aus dem Sonnyboy mit der wehenden blonden Mähne, dem "Grinsi-Klinsi" und dem eiskalt kalkulierenden Strippenzieher, dem "Killer-Klinsi", sorgt schon folgerichtig dafür, dass Klinsmann die Massen spaltet. Bei den Bayern – wo er täglich trainieren musste, statt die Spieler für das Projekt Turnier vorzubereiten, und wo er auf einen zusammengestellten Kader traf und sich die Spieler nicht auswählen durfte – scheiterte er an vielen weiteren Alphatierchen, die ihm gegenüber von Beginn an skeptisch eingestellt waren. "Klinsmann war als strahlender Held der WM 2006 zum FC Bayern geholt worden, als Aufbruchssignal in die Zukunft, als Beweis dafür, dass auch der FC Bayern nicht davor zurückschreckt, seine Strukturen kompetent zu erneuern", schrieb Philipp Lahm später in seiner Autobiografie. "Aber das Experiment Klinsmann war gescheitert. Nach sechs oder acht Wochen wussten bereits alle Spieler, dass es mit Klinsmann nicht gehen würde. Der Rest der Saison war Schadensbegrenzung."
Als Trainer bei Bayern München gescheitert
Fakt ist: Der Deutsche Fußball Bund hielt Klinsmanns Aura trotz aller kritischen Zwischentöne für groß genug, dass seine Ernennung zum Ehrenspielführer beim DFB-Bundestag die kritischen Töne zum WM-Skandal und vielen weiteren offenen Fragen überlagern würde –
eine Rechnung, die zumindest zum Teil aufging. Die Laudatio hielt niemand Geringeres als Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie lobte Klinsmann als "großartigen Sportler, echten Sympathieträger und wunderbares Vorbild, weit über den Fußball hinaus". Und sie dankte noch mal für das Sommermärchen: "Auf Ihnen ruhten die Lasten schwerer Hoffnung, das DFB-Team fit zu machen, für die WM im eigenem Land. Die Erwartungen haben Sie nicht enttäuscht".
Gentleman Klinsmann bedankte sich artig und sichtlich gerührt. "Das ist ein unvergesslicher Moment", sagte er. "Dass sich unsere Bundeskanzlerin die Zeit nimmt – das werde ich für immer zu schätzen wissen." Auch wenn er längst in den USA lebt – zurzeit jedoch nicht mehr dort arbeitet, weil er erst kürzlich als Nationalcoach gefeuert worden ist.
Als Unterstützung hätte er an diesem Tag gerne seinen Fan Merkel eingepackt. "Ich würde sie am liebsten mitnehmen, und sie wird neue US-Präsidentin", sagte er. "Diese Hürde würde sie ganz locker überspringen." Doch an irgendeinem Punkt scheitert sogar Jürgen Klinsmann in dem Bestreben, Vertraute an wichtigen Stellen in Ämter zu hieven.
Holger Schmidt