Die Zeichen, dass sich die europäische Wirtschaft erholt, sind erkennbar. Zeit für die Zentralbank, aus der ultralockeren Geldpolitik auszusteigen. Doch wie? Christian Schulze, Vorsitzender des saarländischen Bankenverbandes, sieht darin eine höchst überfällige Gratwanderung.
Gratwanderungen mögen für Bergsteiger ihren sportlichen Reiz haben. In Politik und Wirtschaft aber sind sie ein schwieriger Balanceakt, der es erforderlich macht, sich den Risiken auf beiden Seiten des Weges zu stellen. Vor einer solchen Gratwanderung steht gegenwärtig die Europäische Zentralbank: Sie muss einen allmählichen Ausstieg aus dem geldpolitischen Krisenmodus finden, in dem sie sich seit einigen Jahren befindet. Dabei sieht sie sich zweierlei Risiken ausgesetzt: zum einen dem Risiko einer zu scharfen Zinskorrektur, zum anderen dem Risiko, mit der Fortsetzung einer Politik des billigen Geldes immer stärker wachsende Stabilitätsrisiken auf den Finanzmärkten und letztlich auch in der produzierenden Wirtschaft in Kauf zu nehmen. Zugleich steht die EZB vor der alles andere als trivialen Aufgabe, nicht nur das Tempo ihrer Ausstiegspolitik richtig zu dosieren, sondern auch kommunikativ den passenden Ton zu treffen.
Dass Notenbanken sorgfältig abwägen müssen, ob sie ihren geldpolitischen Kurs modifizieren, gehört zu ihrem Alltag. Die letzten Jahre waren allerdings alles andere als "alltäglich", und das hat die Lage noch einmal erheblich verkompliziert. Im Rahmen ihrer ultraexpansiven Geldpolitik der vergangenen Jahre hat die EZB nicht nur den Leitzins auf Null gesenkt und die Einlagezinsen der Banken in den negativen Bereich rutschen lassen. Über ein massives Anleihe-Kaufprogramm pumpt sie obendrein jeden Monat einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag in die Kapitalmärkte, um so auch die Zinsen für längerfristige Anleihen und Kredite nach unten zu drücken.
Diese Politik hat zumindest partiell ihre Berechtigung gehabt. Schließlich war die ökonomische Lage einiger Euro-Länder als Folge der europäischen Staatsschuldenkrise lange Zeit äußerst prekär. Aber von Anfang an war auch klar, dass die Risiken auf beiden Seiten des Weges mit zunehmender Zeit immer größer werden: Risiken, die sich bei einer fortgesetzten Expansionspolitik auftürmen, aber auch Risiken, die ein zu schneller Ausstieg mit sich bringen würde. Eine echte Gratwanderung ist deswegen unumgänglich geworden.
Risiken beiderseits des Weges wachsen
Schon jetzt ist die Situation nicht trivial, wie ein Blick auf die Zinshöhe im Euro-Raum zeigt: Denn während die Zinsen für Anleihen und Kredite mit kurzen Laufzeiten praktisch auf ihren historischen Tiefständen verharren, sind die langfristigen Zinsen zum Beispiel für zehnjährige Staatsanleihen oder auch bei Immobilienkrediten in Erwartung eines allmählichen Ausstiegs der EZB aus dem Anleihe-Aufkaufprogramm in den letzten Wochen gestiegen. Von verschiedenen Seiten wird nun die Sorge artikuliert, dass der weitere Zinsanstieg bei den längerfristigen Zinsen möglicherweise zu rasch und zu stark ausfällt, sollte die EZB ihre expansive Politik zu abrupt beenden. Und in der Tat: Eine scharfe Kehrtwende könnte nicht nur die gegenwärtig gute Wirtschaftsentwicklung im Euro-Raum empfindlich dämpfen, auch eine wieder niedrigere Inflationsrate und damit ein noch weiteres Abrücken der EZB von ihrem mittelfristigen Preisziel wären die Folge. Ein zu schnelles Aussteigen aus dieser Politik wäre aber auch für den Finanzsektor ein Problem, denn die Zinserlöse aus langlaufenden Krediten können sich bei steigenden Zinsen nur langsam verändern, während die Zinskosten im Gleichschritt mit den Marktzinsen schnell steigen würden.
Auf der anderen Seite birgt ein zu langes Festhalten an der ultralockeren Geldpolitik ebenfalls Risiken in sich. Nicht nur würde die notwendige Zinswende immer schwieriger werden. Auch die Gefahr von Preisblasen auf einzelnen Vermögensmärkten, ob bei Anleihen, Aktien oder Immobilien, dürfte weiter wachsen. Damit nehmen zugleich die Gefahren von Fehlinvestitionen und infolgedessen die Risiken für die längerfristige Finanzstabilität zu. Auch würden negative Anreize für das Sparen und vor allem für die Alterssicherung weiter fortbestehen.
Was also soll die EZB tun? Nach Auffassung der privaten Banken ist es inzwischen höchste Zeit, dass sie sich auf die Gratwanderung begibt und die geldpolitischen Kriseninstrumente allmählich und mit Umsicht wieder zurückfährt. Außergewöhnliche Umstände verlangen zwar außergewöhnliche Maßnahmen, doch so außergewöhnlich sind die Zeiten nicht mehr: Die Wirtschaft im gesamten Euro-Raum wächst inzwischen seit mehr als vier Jahren, in den letzten beiden Jahren und voraussichtlich auch dieses Jahr sogar mit einer Jahresrate von fast zwei Prozent. Die Inflationsrate wiederum hat sich von der Nulllinie gelöst und dürfte sich in den kommenden Monaten bei einer Rate von knapp eineinhalb Prozent einpendeln. Deflationsrisiken sind schon seit längerer Zeit nicht mehr zu erkennen.
Weitblick und nur moderat steigende Zinsen sind gefragt
In ein solches Umfeld passen weder negative Einlagezinsen noch milliardenschwere Wertpapierkäufe. Risiken und Nutzen dieser Geldpolitik sind schon vor längerer Zeit in eine ungünstige Schieflage geraten. Hierauf muss die EZB reagieren. Gelingt es ihr, den Akteuren an den Finanzmärkten klar zu vermitteln, dass diese Reaktion mit Weitblick erfolgt und hilft, künftige Stabilitätsrisiken zu reduzieren, dann sollten auch bei einer Abkehr von den Negativzinsen und einem allmählichen Auslaufen der Anleihekäufe die Kapitalmarktzinsen also zum Beispiel die Zinsen für Anleihen mit einer zehnjährigen Laufzeit nur moderat ansteigen. Das Risiko, die wirtschaftliche Erholung mit einer behutsamen Entschleunigung der Geldpolitik abzuwürgen, wäre dann äußerst gering. Warnungen vor einem zu schnellen Ausstieg sind somit zwar berechtigt, dürfen aber nicht als Vorwand genommen werden, unumgängliche Entscheidungen weiter aufzuschieben. Die Risiken für die Finanzstabilität werden umso größer, je länger die europäischen Währungshüter den Beginn des Ausstiegs hinauszögern. Die EZB muss sich daher spätestens ab dem nächsten Jahr ganz konkret auf den Weg machen und den Einsatz der geldpolitischen Kriseninstrumente langsam zurückfahren.
Ein Gastbeitrag von Christian Schulze, Vorsitzender des Bankenverbandes Saarland