Die zweite Welle der Digitalisierung rollt bereits. Deutschland sei nicht bereit dafür, beklagen Vordenker wie Ex-Telekom-Vorstand Thomas Sattelberger und DFKI-Chef Prof. Dr. Wolfgang Wahlster.
Was verspricht uns die Digitalisierung nicht alles: weniger Verkehrstote durch autonomes Fahren, weniger Staus durch automatisch gesteuerte Verkehrsdichte, mehr pünktliche ICE, weil ferngesteuert. Mehr Fracht auf See wegen dicht hintereinander fahrenden Schiffen, ein Mehr an Umwelt- und Klimaschutz durch ressourceneffiziente Produktion, bessere Arbeitsbedingungen durch kollaborative Robotik, personalisierte Katastrophen- und Unwetterwarnungen für verbesserten Schutz, mobile Vitaldatenüberwachung zur Gesundheitsvorsorge, virtuelle Erlebniswelten, mobiles Lernen von überall, die Liste ließe sich noch ewig fortsetzen.
Fakt ist: die zweite Welle der Digitalisierung rollt bereits das "Internet der Dinge", also computerisierte, lernende Alltagsgegenstände, künstliche Intelligenzen, die miteinander kommunizieren. Die erste Digitalisierungswelle seit den 80er-Jahren bis heute hat Deutschland, was Innovationsführerschaft betrifft, weitgehend verschlafen und an die USA abgetreten.
Nachdem das PC-Zeitalter nun so gut wie hinter uns liegt, geht der Trend heute zum Dritt- oder Viertgerät mit Laptop, Smartphone, Tablet und vernetztem Auto. Aufhalten können wir diese Welle nicht, aber in die richtigen Bahnen lenken: Prof. Dr. Wolfgang Wahlster, Chef des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), malt regelmäßig schillernde digitale Szenarien für Deutschland mit mehr Wohlstand für alle, besseren Arbeitsbedingungen und einer individualisierten Produktion in urbaner Nähe. Klar, dass er die Zukunft rosig sieht: das DFKI gehört zu den digitalen Vorreitern in Deutschland, schwimmt also, um im Bild zu bleiben, auf der Welle obenauf, treibt intelligente Industrie 4.0-Anwendungen mit Unternehmen aus dem Saarland wie ZF, Bosch-Rexrodt, Ford, VSE-Gruppe oder Festo unermüdlich voran und sieht den Industriestandort Deutschland auf diesem Gebiet im internationalen Wettbewerb gut aufgestellt.
Der Trend geht
zum Viertgerät
Und das trotz einer digitalen Infrastruktur, die Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern alt aussehen lässt. Während Japan, Südkorea, China und die USA von Gigabit-Netzen sprechen, den sogenannten 5-G-Netzen, oder "taktilem Internet", das Datenübertragungen in Echtzeit zulässt, Quantencomputer oder DNA-Computer vor der Einführung stehen, um die auf uns zukommenden riesigen Datenmengen handhaben zu können, scheint Deutschland im Megabit-Bereich gefangen zu sein. Ohne Echtzeit-Kommunikation bleibt taktiles Internet eine unerreichbare Vision, und dies könnte wichtig werden. Denn wie soll beispielsweise ein selbstfahrendes Auto vor einer roten Baustellenampel alleine bremsen, wenn die Kommunikation zwischen den Sensoren an Ampel und Auto zu lange dauert?
Ob die Politik die Prioritäten falsch setzt und damit den mühsam erarbeiteten Vorsprung beim Thema Industrie 4.0 aufs Spiel setzt, die Bedenkenträger der Digitalisierung die Oberhand behalten oder die digitale Revolution vielen Menschen einfach viel zu schnell verläuft, muss jeder für sich beantworten. Doch lediglich 2,7 Milliarden Euro für den Glasfaserausbau und 13 Milliarden Euro für die klassische Verkehrsinfrastruktur zeigen die Prioritätenliste der Bundesregierung im digitalen Zeitalter, warnt Gesellschafter Thorsten Klein vom Telekommunikationsdienstleister Inexio aus Saarlouis. Thomas Sattelberger, ehemaliger Telekom-Vorstand und heute Vorsitzender der Bildungsinitiative "MINT Zukunft schaffen", sieht als Hemmnis unter anderem die Regulierungswut der Deutschen. "Nicht erst einmal machen lassen, sondern schon vorher alles regulieren wollen und sämtliche Initiativen im Keim ersticken, kann bei der Digitalisierung so nicht zum Erfolg führen", so Sattelberger. Größere Sorgen bereitet Sattelberger allerdings mehr die Frage, ob unser Bildungssystem überhaupt in der Lage ist, junge Menschen auf den Umgang und die unterschiedlichen Facetten der Digitalisierung richtig vorzubereiten. Den Experimentier- und Erfindergeist zu motivieren und spielerisch zu fördern, könnten die Schulen auch mit einfachen Mitteln bewerkstelligen wie die Bereitstellung eines Experimentierraums, dazu ein paar "technologische Fitness-Coaches", sowie Partnerschaften von Schulen, Unternehmen und eben der staatlichen Infrastruktur. Er fordert klipp und klar andere Formen des Lernens mit spielerischen Zugängen. Israel liefere hier ein gutes Beispiel.
Auch die Gründermentalität bleibe in Deutschland ein großes Manko. Die Angst des Scheiterns und der damit verbundene lebenslange Makel oder die Selbstzufriedenheit erfolgreicher Gründer, an irgendeinem Punkt nicht mehr weitermachen und aussteigen zu wollen, um das Leben zu genießen, seien in Deutschland leider eine weitverbreitete Geisteshaltung, beklagt DFKI-Chef Wahlster. Immerhin habe sein Institut schon fast 80 Unternehmensgründungen auf den Weg gebracht, aber das sei eben immer noch zu wenig, um langfristig auf der Digitalisierungswelle vorne mitzureiten. Vielen Gründern fehle oft die notwendige Motivation, Großes bewegen zu wollen.
Dem Argument, die Digitalisierung vernichte Arbeitsplätze, will Wahlster so nicht gelten lassen. "Deutschland ist in Europa das Land mit der höchsten Roboterdichte und der geringsten Arbeitslosigkeit." Die Künstliche Intelligenz sei im Alltag angekommen, kognitive Assistenzsysteme, Autopiloten, lernende Systeme übernehmen zunehmend mehr Routineaufgaben. "Es wird sicherlich Einzelschicksale geben, aber die menschliche Arbeit wird nicht ersetzt, sie wird anspruchsvoller", erklärt Wahlster. Die kollaborative Robotik, bei der Maschinen und Menschen Hand in Hand arbeiten, erleichtert die Arbeit in der Fabrik. So unterstützen Roboter bei Airbus zum Beispiel die Flügelmontage bei Flugzeugen oder das Überkopfarbeiten beim Einbau der Autohimmel bei Ford zur gesundheitlichen Entlastung der Mitarbeiter. Wahlster sieht zudem in dem Facharbeiterpotenzial in Deutschlands Industriehallen ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt. "Sie haben Erfahrung, sind gut ausgebildet und motiviert. Das zeigen unsere Erfahrungen mit den Unternehmen."
Mangelnde Gründermentalität
Selbst die so oft kritisierte Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer stößt an ihre Grenzen. Grund ist der Zeitgeist der Individualisierung. Kunden designen ihre Produkte nach ihren individuellen Ansprüchen im Internet selbst und wollen sie so schnell wie möglich haben, ohne lange Wartezeiten. Der Sportartikelhersteller Adidas produziert deshalb höherwertige Laufschuhe wieder in Deutschland statt in Fernost. "Das ist ein Beispiel für die Reurbanisierung der Produktion in Kundennähe", freut sich Wahlster.
Dass es auch Negativbeispiele bei der Digitalisierung gibt, räumt Wahlster ebenfalls ein, zum Beispiel bei der digitalen Gesundheitskarte. Die händische Datenerfassung, unnötige Mehrfachuntersuchungen aufgrund des Nichtauffindens der Gesundheitsdaten, Medienbrüche, all das erinnere an die technologische Steinzeit, liege aber nicht an den technischen Möglichkeiten, sondern sei ein Organisationsversagen von Politik und Verbänden. Natürlich gebe es Verlierer bei der Digitalisierung und die gesellschaftliche Akzeptanz dürfe nicht unterschätzt werden, warnt Thomas Sattelberger. Schließlich werde bereits darüber diskutiert, ob die sozialen Systeme mit den Konsequenzen der Digitalisierung, sprich Arbeitslosigkeit, überhaupt Schritt halten können. Roboterabgaben oder digitale Dividenden sind bereits im Gespräch, um die mögliche gesellschaftliche Kluft nicht weiter zu vergrößern. Die vermeintlichen Verlierer werden sonst bei Wahlen ganz klar mit den Füßen abstimmen, wie die jüngsten Erfahrungen weltweit zeigen.
Das Saarland sieht Wahlster jedenfalls in puncto Forschungslandschaft, Unterstützung der Politik und der Bereitschaft von Unternehmen, auf die Digitalisierungswelle aufzuspringen, gut im Rennen. Darauf müsse konsequent aufgebaut werden, so sein Fazit.
Armin Neidhardt