Kultur macht den Menschen erst zum Menschen und hat eine heilende Wirkung. Der Verein "KulturLeben Berlin" arbeitet mit 430 Partnern zusammen, um auch ärmeren Berlinern den Zugang zu Theater, Fußball oder Konzerten zu ermöglichen.
Das Konzert der Lieblingsband besuchen. Oder ins Theater gehen, ein angesagtes Stück oder Musical gucken. Doch geht das ohne Geld? In Berlin ist das seit 2010 möglich. Der Verein KulturLeben Berlin verschafft Menschen mit geringem Einkommen Zugang zu kulturellen Veranstaltungen. Denn Kultur macht Spaß und bildet, aber sie hat auch eine heilsame Kraft nicht nur bei seelischen Wunden. Für die Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin Beatrice Moreno ist der Umkehrschluss daher eine medizinische Gewissheit: Kultur-Armut kann krank machen.
Positive Erlebnisse, die ein Sicherheitsgefühl vermitteln, treten oft in Wechselwirkung mit Stressauslösern, die belastend auf den Körper wirken: Zu ihnen gehören Armut und Vertreibung ebenso wie Schicksalsschläge und Existenzverluste. Treten solche Belastungen in Folge auf, setzen sie eine Abwärtsspirale in Gang. Zur seelischen Belastung kommen oft noch Bluthochdruck, Schlaf- oder Verdauungsprobleme, das Befinden verschlechtert sich zunehmend. Dagegen empfiehlt Moreno keine Tabletten, sondern sie hält ein ganz anderes Rezept bereit: Besondere Unterhaltung und völlig neue Stimuli wie ein Besuch im Theater oder ein Orchester-Abend im Dom können körpereigene Mechanismen reaktivieren, die erfahrungsgemäß eine Verbesserung mit sich bringen.
Kultur-Armut
kann krank machen
In der Vergangenheit, so erklärt sie beim Jahrestreffen von KulturLeben Berlin, gingen Rezessionen und Weltwirtschaftskrisen wohl auch deshalb immer mit kulturellen Blütezeiten einher: Der Mensch brauchte eine Flucht aus dem hoffnungslosen Alltag. Doch in der heutigen Krisenzeit bleibt "Abgehängten" oft nur das Internet als Zugang zur Welt. Wenn das Geld kaum zum Leben reicht, sind Tickets zu kulturellen Angeboten einfach nicht mehr drin. Isolation und, auf längere Zeit gesehen, schwindender Selbstwert sind so vorprogrammiert. Diesem Missstand will der Verein KulturLeben Berlin etwas entgegensetzen, mit einem besonderen Service für Menschen, die den Zugang zu Kultur entweder verloren haben oder noch nie besaßen: Nicht verkaufte Theater-, Fußball- oder Konzert-Karten werden kurzfristig per Telefon an eben jene Menschen vermittelt, denen diese Welt aus finanziellen Gründen sonst verschlossen geblieben wäre. Die Veranstalter wiederum profitieren von einem garantiert "ausverkauften" Haus sie tun etwas Gutes und haben zugleich eine gute Eigenwerbung.
Im Durchschnitt vermittelt der Verein mit 92 ehrenamtlichen Mitarbeitern 4.000 Plätze pro Monat. Frank Pleske zum Beispiel ist als Sozialarbeiter einer der dankbaren Abnehmer er berichtet, wie eine von ihm betreute Gruppe psychisch erkrankter Jugendlicher sich unlängst das Hertha-Spiel gegen Dortmund im Olympia Stadion ansehen konnte. Die Atmosphäre, die Kulisse, der Ausflug, das Wir-Gefühl für die traumatisierten Kids ein großartiger Tag. Pleske ist einer von vielen: 300 Sozialpartner in der ganzen Stadt geben das Angebot an ihre Klienten weiter, unter ihnen Einrichtungen wie Frauenhäuser oder Initiativen aus der Flüchtlingshilfe.
Dass Kultur sehr stimuliert, bestätigt auch Kinderarzt Ulrich Fegeler: Das Projekt "Theater auf Rezept" verschreibt Kindern mit denkbar schlechten sozialen und ökonomischen Startbedingungen wortwörtlich Kultur. Jungen und Mädchen aus "anregungsarmen Familien", wie er es nennt, würden ungemein davon profitieren, wenn sie sich mit Bühnenstücken auseinandersetzen können, die "in 3D", nicht nachbearbeitet und vor allem interaktiv sind. Die soziale Komponente des Theaters würde dieser besonders förderbedürftigen Gruppe seiner Einschätzung nach ein Fünftel aller in Deutschland lebenden Kinder neue Horizonte eröffnen.
Sebastiao Pembele, selbst Kulturveranstalter, kennt die andere Seite von Kultur als Heilmittel: In seiner Initiative "The Earth-Women-Project" können sich vertriebene Frauen gesanglich ausdrücken, selbst auf der Bühne stehen, auch in großen Städten wie Berlin. Pembele weiß, wovon er spricht: In den 90er-Jahren flüchteten er und seine Familie von Angola nach Deutschland. Das Gefühl der Fremde und der Entwurzelung machte ihnen allen zu schaffen. Die heilsame Kraft von Musik umschreibt er als "das einzige Glückshormon, das wir damals erlebt haben. Alles kam durch Musik."
Kostenfreie Tickets für 29.000 Berliner
Dieses Glückshormon und auch den Schub für soziale Teilhabe und Gesundheit weiterzugeben, das ist die Intention hinter KulturLeben Berlin, wie Angela Meyenburg, Geschäftsführerin des Vereins, bekräftigt. Sie hat das Projekt 2010 unter dem Namen "Die Loge" ins Leben gerufen und über die Jahre ausgebaut. Mittlerweile ist der Verein gut vernetzt: Den 430 Partnern aus dem Kulturbetrieb, die regelmäßig Rest-Karten zur Verfügung stellen, stehen 29.000 Menschen gegenüber, die das Angebot dankbar annehmen. Bis dato erfolgte das hauptsächlich telefonisch, seit April dieses Jahres hat der Verein auch eine WhatsApp-Gruppe eine gute Sache für diejenigen, die vor dem Griff zum Telefon doch Hemmungen haben. Bei der Anmeldung müssen Kulturinteressierte einmal ihr geringes Einkommen nachweisen, danach fällt eine stigmatisierende Unterscheidung zum zahlenden Publikum weg. An der Abendkasse muss man lediglich seinen Namen nennen und gegebenenfalls einen Ausweis vorzeigen.
Finanziert wird das Angebot über Förderer und Spenden, in diesem Jahr hat der Verein auch erstmals einen Förderantrag bei der Stadt Berlin eingereicht. Und viel ist noch geplant für 2017, auch eigene Projekte: etwa eine Wiederholung des Kinder- und Jugendprojektes "Cooleranz Toleranz ist cool!", historische Dampferfahrten in Kooperation mit der Berliner Geschichtswerkstatt und der Kinder-Workshop "Rummelplatz", angeboten von der Schaubude Berlin.
Wer den Karten-Service selbst in Anspruch nehmen möchte, kann telefonisch (030-28867300) oder persönlich (Stephanstraße 51, 10559 Berlin) Kontakt mit dem Verein aufnehmen. Weitere Anmelde-Adressen und Möglichkeiten mitzumachen, finden sich unter www.kulturleben-berlin.de
Philippe Zimmermann