Kalifornische Wissenschaftler haben untersucht, wie die idealen weiblichen Lippen aussehen sollten. Überraschend: am attraktivsten ist, wenn die Oberlippe nur halb so dick ist wie die Unterlippe.
Ein voller Mund gilt als wichtiges weibliches Schönheitsideal und wird gemeinhin als Versprechen von Sinnlichkeit angesehen. Deshalb sind Frauen mit schmalen oder konturlosen Lippen oft unzufrieden und interessieren sich für die diversen Möglichkeiten der modernen Lippenverschönerung. Auch der Selfie-Hype trägt entscheidend dazu bei, dass, bislang vor allem in den USA, Lippenkorrekturen inzwischen einer der Renner der Schönheitschirurgie sind. 2015 wurden in Amerika rund 27.000 Lippen-Implantate eingesetzt. Wobei bei den Kundinnen der US-Beauty-Docs derzeit vor allem eine Oberlippenvergrößerung à la Kylie Jenner besonders angesagt ist. Auch in Deutschland ist die Lippenverschönerung laut der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie schon auf Platz sieben der bei Damen beliebtesten Schönheitsoperationen geklettert.
Vor diesem Hintergrund mag verständlich sein, warum sich US-Forscher, die neben ihrer Uni-Tätigkeit wohl größtenteils auch als Schönheitschirurgen arbeiten, wissenschaftlich mit der Frage beschäftigt haben, ob es eine Formel für den ästhetisch perfekten Frauenmund gibt. Die Ergebnisse ihrer Studie hat das Team rund um Natalie Popenko und Brian Wrong von der University of California in Irvine vor Kurzem im Fachmagazin für Schönheitsoperationen "Jama Facial Plastic Surgery" veröffentlicht. Und gleich auch noch zwei Promi-Ladys benannt, deren Lippen der mathematisch errechneten Perfektion am nächsten kommen: Alessandra Ambrosio und Miranda Kerr.
Ihrer Forschungsarbeit legten die Wissenschaftler 20 Fotos von schönen jungen Frauen mit weißer Hautfarbe zwischen 18 und 25 Jahren zugrunde. Mit Hilfe eines Computerprogramms wurden anschließend die Lippen aller Originalbilder digital verändert, und zwar deutlich verkleinert oder deutlich vergrößert. Das betraf Ober- wie Unterlippe gleichermaßen, deren Verhältnis also gleich blieb, es änderte sich nur die gesamte Mundfläche. Die nun insgesamt 100 Fotos wurden in einer ersten Untersuchungsphase 150 Probanden vorgelegt, die einfach nur durch Vergabe von Noten zwischen eins (am wenigsten attraktiv) und fünf (höchste Attraktivität) entscheiden sollten, welches Gesicht aus dem einzelnen Fünfer-Pack-Set für sie am schönsten war. Zum Start der zweiten Untersuchungsphase wurde wieder die ursprüngliche Ausgangsposition hergestellt, mit dem Unterschied, dass nur noch die Fotos der 15 Frauen mit der höchsten Bewertung aus der ersten Untersuchungsphase verwendet wurden. Auch diese Fotos wurden wieder digital verändert, diesmal in vier Stufen, und zwar was das Verhältnis von Ober- zu Unterlippe anging. Die entsprechenden Kombinationen seien laut der Wissenschaftler zum einen auch bei natürlichen Lippen häufig anzutreffen, andererseits gebe es einen unübersehbaren aktuellen Beauty-Trend hin zu fülligeren Oberlippen, dem ebenfalls Rechnung getragen wurde. Die insgesamt 60 Fotos wurden nun 428 Studienteilnehmern zur Bewertung und Notenvergabe vorgelegt.
Als Richtlinie für Plastische Chirurgen
Die Auswertung der ersten Untersuchungsphase ergab, dass der ideale Mund etwa um die Hälfte größer sein sollte als auf dem Originalgesicht zu sehen war. Zudem sollten die idealen Lippen eine Fläche von 9,6 Prozent im unteren Drittel des Gesichts bedecken, das unterhalb der Nase beginnt. Die zweite Untersuchungsphase lieferte die Erkenntnis, dass die Probanden mit klarer Mehrheit, 42 Prozent, das Verhältnis 1:2 am besten fanden, bei dem die Oberlippe nur halb so dick war wie die Unterlippe. Die umgekehrte Konstellation 2:1 konnte am wenigsten überzeugen, sprich der aktuelle Beauty-Run zur Oberlippenvergrößerung könnte womöglich ein Irrweg sein. Auffällig sei es laut Brian Wang auch gewesen, dass die am besten bewerteten Lippen keineswegs besonders breit gewesen seien. Schon gar nicht hätten sie wie zwei gleichförmige Schläuche aussehen dürfen.
Die Studie soll künftig helfen, natürlich immer mit Blick auf harmonische Gesichtsproportionen, die attraktivsten Lippen zu bestimmen: "Die Lippendimensionen und -verhältnisse in dieser Studie", sagen die Autoren, "könnten als Richtlinie dienen." Die Gesichtschirurgin Catherine Winslow von der Indiana University in Indianapolis machte in ihrem Gastkommentar zu der Studie noch auf weitere Aspekte aufmerksam: "Unsere Fähigkeit, die periorale Region zu konturieren und zu definieren, hat zur steigenden Nachfrage einer immer jüngeren Bevölkerung geführt, die nicht nur die Verjüngung, sondern auch die Neugestaltung der natürlichen Anatomie sucht. Angefacht von dem Wunsch, wie Berühmtheiten auszusehen sowie den Social-Media-Diskussionen werden heute routinemäßig Anfragen für Injektionen gestellt, mit dem Wunsch nach Lippen berühmter Celebrities."
Zudem müssten bei Lippenverschönerungen stets drei Punkte beachtet werden: "Erstens, es gibt so etwas wie ein Zuviel, wenn es um Lippenfüller geht. Zweitens, Proportionen und Lippenverhältnis müssen berücksichtigt werden. Drittens, es gilt die Balance der Lippenregion zu erhalten."
Deutsche Experten sind sich uneins über den Nutzen der Studie. "Eine mathematische Berechnung von Schönheit ist schwierig", sagt Vincenzo Penna vom Universitätsklinikum Freiburg und Mitglied der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen. Dennoch findet er die Herangehensweise der US-Kollegen an die Frage "Was ist schön?" wissenschaftlich hochinteressant. "Weil dadurch", so Penna, "die qualitative Beschreibung von Ästhetik durch eine quantitative Dimension ergänzt wird." Was im Beratungsgespräch mit Patientinnen durchaus von Nutzen sein könne. Dennis von Heimburg, der Frankfurter Präsident der Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen, hält die Ergebnisse der Studie hingegen für wenig hilfreich. Weil seiner Meinung nach das als attraktiv empfundene Lippenvolumen ohnehin schon längst bekannt sei. Und weil beispielsweise der Zahnstand der Patientin bei der Studie unberücksichtigt geblieben sei. Werde der nicht ausreichend beachtet, könnten Oberlippen schnell "aufgepumpt" wirken.
Peter Lempert