Sie drücken und quetschen ihre Haut und können nicht aufhören. Eine Betroffene gibt Einblick in das wenig bekannte Leiden der sogenannten Skin Picker.
Die Finger rastlos auf der Suche nach einer Unebenheit, im Gesicht, an den Armen, im Dekolletee. Irgendwo ist immer ein Pickel oder eine verkrustete Wunde. Dann kratzen, knibbeln, quetschen, drücken. Minuten, Stunden, völlige Vertiefung, Trancezustand. Bis die Haut aussieht wie ein Schlachtfeld. Immer und immer wieder. "Manchmal war es so schlimm, dass ich nicht arbeiten gehen konnte", erinnert sich Ingrid Bäumer. Sie ist eine sogenannte Skin Pickerin mit einer langen Leidensgeschichte.
Unter Skin Picking oder Dermatillomanie versteht man das krankhafte Zupfen, Kratzen und Drücken der eigenen Haut. Psychologen stufen dieses Verhalten als Zwangsstörung ein. Skin Picker verletzen ihre Haut permanent, ohne diesen Impuls steuern zu können. Ihr Verhalten hat nichts mit dem gelegentlichen Ausrücken eines Pickels zu tun. Skin Picker können mit dem Herumdrücken nicht aufhören und schämen sich wegen ihres Kontrollverlustes. Viele ziehen sich deshalb aus ihrem Umfeld zurück. Die Zwangserkrankung verursacht "in klinisch bedeutsamer Weise eine Beeinträchtigung in sozialen und beruflichen Bereichen", heißt es in einem amerikanischen Diagnosehandbuch. Vieles spricht dafür, dass psychische Faktoren wie Angst, Überforderung, Stress und Langeweile diese Störung hervorrufen.
Auch Ingrid Bäumer hat diese Phasen mitgemacht, jahrelang, bis die heute 46-Jährige 2009 im Internet auf Gleichgesinnte stieß. "Das war eine Befreiung", erinnert sie sich. Zu wissen, dass sie nicht alleine ist, hat sie dazu gebracht, eine Selbsthilfegruppe für Skin Picker zu gründen. Seit 2010 leitet sie in Köln Deutschlands erste Anlaufstelle für Betroffene. Ihre gesammelten Erfahrungen, ihr Wissen über diese Erkrankung und die Gespräche mit anderen Betroffenen hat sie in einem Buch verarbeitet, das im vergangenen Jahr erschienen ist. Die Nachfrage ist so groß, dass bereits eine zweite Auflage in Druck ist.
Weitestgehend unerforschte Störung
Tatsächlich ist, so ist in dem Ratgeber zu lesen, die Störung bislang nicht wirklich ausreichend erforscht. In Deutschland gibt es kaum Studien dazu, etwas besser sieht es in den USA aus. Fasst man alle Studienergebnisse zusammen, so scheinen etwa drei bis fünf Prozent der Bevölkerung betroffen zu sein. Deutlich mehr Frauen als Männer. Schätzungen gehen von einem Frauenanteil zwischen 60 bis 90 Prozent aus. Warum das so ist, dazu gibt es bisher nur Vermutungen. "Frauen sind sich bewusst, dass sie häufig nur als Objekt wahrgenommen werden. Das führt zu einem enormen Druck, perfekt sein zu wollen", meint Ingrid Bäumer. Eine Folge: Der Körper wird ständig kontrolliert und manipuliert.
Ingrid Bäumer hat schon früh angefangen, sich intensiv mit ihrem Körper beziehungsweise mit ihrer Haut zu beschäftigen. "Schon als Kind habe ich ständig an meiner Haut geknibbelt", erinnert sie sich. Nicht, weil sie perfekt sein wollte, sondern weil sie damals sehr zappelig war und mit dem Knibbeln zumindest ihre Finger beschäftigt halten konnte. Ihre Knibbelei führte dazu, dass Wunden nicht abheilten. Richtig schlimm wurde es in der Pubertät, als bei ihr Akne ausbrach.
Die Pubertät, so zeigen Befragungen von Betroffenen, gilt als klassischer Auslöser oder Verstärker. Eine Zeit, in der sich der Körper sowieso massiv verändert und Pickel keine Seltenheit sind. Doch bei den Skin Pickern gerät die für diese Phase typisch intensive Auseinandersetzung mit dem Körper nachhaltig außer Kontrolle. Sie können nicht damit aufhören, ihre Haut zu quetschen und zu drücken. Dabei tun sie dies gar nicht mit einem Zerstörungsdrang: "Vielmehr glaubt der Betroffene, wenn er die Haut bearbeitet, er würde sich etwas Gutes tun", schreibt Ingrid Bäumer in ihrem Buch.
Auch das Gefühl kennt Ingrid Bäumer, die ihre "Hautsitzungen" mitunter wie in einer beruhigenden Trance erlebte. Bei Druck, Stress und Angst wurde ihr exzessives Verhalten noch schlimmer. "In der Regel dient das Pulen an der Haut als einfacher Mechanismus zur Stressregulierung. Manche der Patienten haben Phasen von massivem Druck erlebt, dem sie nicht mehr standhalten konnten und für den sie eine vorübergehende Lösung zur Stressreduzierung gesucht und gefunden haben", berichtet Prof. Antje Hunger, Psychologin und Psychotherapeutin an der Hochschule Düsseldorf in einem Interview mit der "Apotheken Umschau". Ingrid Bäumers Knibbeln betraf dabei den ganzen Körper. Besonders fatal war es, wenn sie ihre Füße so "bearbeitet" hatte, dass danach jeder Schritt zur Qual wurde, erzählt sie. Ihr Knibbeldrang begleitete sie noch jahrzehntelang. Manches ließ sich überschminken, anderes durch Kleidung verdecken. Aber die Scham über dieses unkontrollierbare Verhalten war immer da.
Natürlich bleiben diese ständigen Hautmanipulationen nicht ohne medizinische Folgen: Entzündungen, drohende Blutvergiftungen, Haltungsschäden und Muskelverkrampfungen vom stundenlangen Hantieren vor dem Spiegel sind typisch für Skin Picker. Doch wirklich erkannt wird diese psychische Störung eher selten. Die zentrale Frage ist: Wann ist das Herumdrücken an der Haut krankhaft? "Bei Skin Pickern müssen mehrere Faktoren zusammenkommen", sagt Ingrid Bäumer. Darunter dieser innere Zwang, die fehlende Impulskontrolle, die monotone wiederholende Bearbeitung des Körpers, die Scham und die Isolation aufgrund des eigenen Verhaltens. "Eine psychische Erkrankung liegt vor, wenn man die Kontrolle über das Verhalten verloren hat in diesem Fall das Knibbeln an der Haut", sagt die Düsseldorfer Psychologin Prof. Antje Hunger.
Selbst für Fachleute scheint es bislang gar nicht einfach, die psychische Zwangsstörung zu diagnostizieren. Hautärzte behandeln in erster Linie die kaputte Haut und stellen vielleicht zu wenig Fragen über die Ursachen. Für viele Therapeuten wiederum ist das Störungsbild nicht eindeutig oder sie wissen noch nicht genug darüber. Erst seit 2013 ist Skin Picking als eigenständige psychische Störung im Diagnose-Manual der American Psychatric Association (APA) gelistet. Die Störung wird als "Body-Focused Repetive Behaviour" (BFRB) kategorisiert. Ein Sammelbegriff für alle chronischen Verhaltensweisen, mit denen eine Person wiederholt ihrem eigenen Körper Schaden zufügt. Eine ähnliche psychische Störung ist die Trichotillomanie, bei der sich Betroffene die Haare zwanghaft ausreißen. Manchmal leiden sie unter mehreren psychischen Störungen gleichzeitig und nicht immer lässt sich sagen, was möglicher Auslöser und was die Folge ist.
Erfolg durch Selbsthilfegruppe
Für Therapeuten und Patienten ist eine eindeutige Diagnose eine wichtige Grundlage, um miteinander arbeiten zu können. Allein, um eine Therapie bei der Krankenkasse zu beantragen, braucht es einen Diagnoseschlüssel. Bislang war Skin Picking in dem aktuell gültigen Therapie-Manual der Weltgesundheitsorganisation (ICD 10) in einer Art Grauzone kategorisiert. Dort wurde es unter "Störung der Impulskontrolle" geführt, war aber keine eigenständig gelistete Krankheit. Das soll sich ab 2018 mit der neuen Auflage des Manuals (ICD 11), das für deutsche Mediziner bindend ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit ändern. In einer Vorabversion des Manuals plädieren die Experten dafür, dass Skin Picking in der Gruppe der Zwangsstörungen als "Excoriation Disorder" gelistet ist. Das würde es einfacher machen, eine entsprechende Therapie genehmigen zu lassen. An der Universität Wuppertal läuft zudem am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie eine große Umfrage zum Thema Psyche und Haut, auch Skin Picker sind ausdrücklich aufgefordert, mitzumachen.
Ingrid Bäumer hat die Arbeit mit der Selbsthilfegruppe geholfen, sagt sie. Das war ihre Form der Therapie. Sie hat dadurch andere Menschen mit dem gleichen Problem kennengelernt, hat Interviews mit ihnen geführt, sich über den Forschungsstand informiert und schließlich den Ratgeber geschrieben. Letztlich wurde sie selbst ein wenig zum Experten für ihre Krankheit. Heute, so sagt sie, habe sie sich und ihre Haut mehr im Griff. Auch, wenn es immer wieder Momente im Leben gibt, die eine Skin-Picking-Attacke auslösen können. Aber die Machtlosigkeit von damals, die sei endlich weg.
Alexandra Trudslev
Buch-Tipp:
"In meiner Haut
Leben mit Skin Picking"
Ingrid Bäumer, Barbara Schubert
Mabuse Verlag, 2016,
ISBN: 9783863213275, 16,95 Euro.
INFO:
Selbsthilfegruppe Köln:
Treffen an jedem dritten Montag um 19 Uhr, weitere Selbsthilfegruppen haben sich bereits gegründet oder sind in der Gründung. Weitere Infos unter www.meine-haut.blogspot.de