Mehrere Hundert Erdbeben werden jährlich hierzulande verzeichnet. Wo das seismische Risiko in der Bundesrepublik am größten ist, zeigt eine neue Erdbebenkarte des Geoforschungszentrums in Potsdam.
Typischerweise können Erdbeben entstehen, wenn Kontinentalplatten mit gewaltigem Druck aufeinandertreffen. Deutschland, das mitten auf der Eurasischen Platte liegt, ist vergleichsweise weit vom Epizentrum unter dem Apennin entfernt. Dort drückt die langsam, aber kontinuierlich nach Norden rückende Afrikanische Platte auf eben die Eurasische Platte und hebt diese mehrere Millimeter im Jahr empor – im Laufe von Millionen Jahren sind so beispielsweise die Alpen entstanden. Italien, vor allem die Region der Abruzzen, zählt gemeinsam mit Griechenland zu den seismisch am meisten gefährdeten Gebieten in Europa, und auch auf dem Balkan und der Westtürkei leben die Menschen auf unsicherem Grund. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Bundesrepublik vor Erderschütterungen gefeit ist. Nur sind die meisten der hiesigen Erdbeben, von denen ganz Norddeutschland so gut wie nie betroffen ist, so schwach, dass sie nur durch ganz empfindliche Messinstrumente registriert werden können. „Wir werden wie von einem Nussknacker in die Zange genommen", sagt der renommierte Geophysiker und Seismologe Rainer Kind vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam (GFZ). „Von Norden drückt der nordatlantische Rücken, von Süden drücken die Alpen." Wenn die Spannung dabei zu groß wird, kann es auch innerhalb einer festen Platte Beben geben.
Auf der Richterskala erreichen sie meist nur niedrige, die freigesetzte Energie beziffernde Magnituden. Dennoch ist ein Erdbeben bis zu einer Stärke von 6 in unseren Breitengraden durchaus möglich – so wie im Jahr 1756. In der Kleinstadt Düren westlich von Köln ereignete sich das schwerste Erdbeben der deutschen Geschichte mit erheblichen Gebäudeschäden und auch einigen Toten – mit einer Magnitude von 5,9 auf der Richterskala. Das Naturereignis bei Düren wird dank der Stärke von rund 6 zu den mittelschweren Beben gezählt, meist bewegen sich die Werte hierzulande bei 1 bis 2 (nur durch Instrumente nachweisbar) oder maximal 3 (nur selten nahe dem Epizentrum überhaupt spürbar; im Mai 2018 beispielsweise im sächsischen Vogtland festgestellt). Ein Großbeben ab Stärke 8 ist weltweit nur einmal pro Jahr zu beklagen. Die höchste jemals gemessene Magnitude war 9,5, sie gehörte zu einem Erdbeben in Chile 1960.
Häuser erdbebengerecht planen
Auch wenn die Risiken durch Erdbeben in Deutschland ziemlich gering sind, so sind sie doch keineswegs vernachlässigbar. Vor allem nicht für Bauherren, die in Problemzonen ihre Häuser gemäß der gesetzlichen Vorschriften erdbebengerecht planen lassen müssen. Grundlage dafür ist ein im Juni 2018 vorgestelltes neues Kartenwerk zur Erdbebengefährdung in Deutschland, das vom GFZ im Auftrag des Deutschen Instituts für Bautechnik erstellt wurde und das künftig die seit 1981 gültige deutsche Erdbebenzonierung ersetzen wird. Unter Federführung von Gottfried Grünthal hatten die Potsdamer GFZ-Wissenschaftler als Basis für das neue Kartenwerk Daten und Aufzeichnungen zu Erdbeben der letzten 1.000 Jahre auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik samt einer Umgebung von mindestens 300 Kilometern neu analysiert und katalogisiert.
„Überraschenderweise haben wir viele ‚Fake-Beben’ gefunden", erläutert Grünthal. „Mehr als 60 Prozent der im bisherigen deutschen Erdbebenkatalog aufgeführten Schadenbeben haben in manchen Gebieten nie stattgefunden. Spätere Chronisten oder Autoren verschiedener Erdbebenkataloge haben die Fehler einfach übernommen." So seien in manchen Fällen beispielsweise Stürme mit erheblichen Schäden als Erdbeben eingestuft worden. Dank der entsprechenden Korrekturen gebe es, meldet die GFZ, „jetzt noch verlässlichere Gefahreneinschätzungen als bisher, die in deutsche und europäische Baunormen eingehen werden. Diese Neueinschätzung wird weitreichende wirtschaftliche Folgen haben." Auch so mancher Gebäudeversicherer dürfte sich freuen, schließlich hat die Branche immer wieder auf den mangelhaften Schutz bezüglich Naturgefahren wie Erdbeben hingewiesen. Gerade mal 41 Prozent der deutschen Haushalte sind im Besitz einer auch Erdbebenschäden abdeckenden „erweiterten Naturgefahrenversicherung".
Im Großen und Ganzen stimmen die aktuell neu definierten deutschen Risikogebiete mit denen früherer Kartierungen überein. Grob gesagt, liegen Deutschlands Erdbebengebiete im Westen, Süden und Südosten mit den Hotspots Niederrheinische Bucht, Rheingraben, Bodenseeregion, Schwarzwald, Schwäbische Alb und Vogtland. Der Rheingraben ist so etwas wie eine geologische Schwachstelle, Teil einer alten Bruchzone, die quer durch Europa vom Mittelmeer bis nach Skandinavien reicht. Hier hatte es in der Vergangenheit schon starke Beben gegeben, beispielsweise 1356 das Baseler Erdbeben, dessen Stärke auf der Richterskala zwischen 6,0 und 7,1 taxiert wird und Hunderte oder gar Tausende von Opfern forderte.
Starke Beben im Rheingraben
Die Region am Niederrhein war zuletzt 1992 vom Erdbeben im grenznahen niederländischen Roermond betroffen, dass mit einer Stärke von 5,3 neben einigen Verletzten reichlich Sachschäden im dreistelligen Millionenbereich verursacht hatte. Auch die Schwäbische Alb südlich von Stuttgart ist spätestens seit dem Beben rund um Albstadt-Ehningen 1911 mit einer Stärke von 5,7 als seismischer Brennpunkt in Deutschland bekannt. Ursache der mitteldeutschen Erdbebenzone ist ein System von Verwerfungen in Nord-Südrichtung, die vom Vogtland im Süden bis in das Gebiet um Leipzig reichen. Diese Zone, in der es früher häufiger schon Beben der Magnitude 5 gegeben hat, umfasst, sagen die GFZ-Forscher, „den Westen Sachsens und den Osten Thüringens. Sie reicht südlich bis nach Tschechien und Bayern hinein."
Auch außerhalb der seismischen Hotspots ist der Rest Deutschlands nicht komplett erdbebenfrei. „Eine diffuse Seismizität tritt außerhalb der beschriebenen Erdbebenzonen in allen Teilen Deutschlands auf", sagen die GFZ-Wissenschaftler. „Wirtschaftlich relevante seismische Ereignisse sind daher im Prinzip überall zu erwarten." Nicht eingeflossen in das neue Kartenwerk sind Erschütterungen der Erde, die mit menschlicher Aktivität zu tun haben, beispielsweise als Folge von Kohle- oder Salzabbau, Öl- oder Gasförderung und Geothermie-Bohrungen. „Das Auftreten dieser induzierten seismischen Ereignisse ist stark zeitabhängig", erklärt Grünthal. „Sie können mit dem Abschluss der Aktivitäten enden oder werden durch technische Verbesserungen in ihrer Intensität vermindert." Das Erdbeben von Saarwellingen im Februar 2008 beispielsweise, das das Ende des Kohleabbaus an der Saar eingeleitet hat, blieb daher außen vor.