Wissenschaftler haben bei ihrer Suche nach Faktoren für ein langes Leben weltweit fünf Regionen gefunden, in denen Menschen besonders alt werden. Was zeichnet sie aus – und was können wir von ihren Einwohnern lernen?
Hundert Jahre oder älter werden, dabei möglichst vital sein, gesund bleiben und klar im Kopf – das ist für viele Menschen eine absolute Traumvorstellung. Nur: Wie erreicht man das? Wissenschaftler haben bei der Frage, was zu einem langen Leben führt, weltweit fünf Regionen identifizieren können, in denen Menschen besonders alt werden. Blue Zones haben sie die genannt. Der Journalist und Autor Dan Buettner ist dafür mit Forschern mehrere Jahre um den ganzen Globus gereist. Mithilfe von Anthropologen, Historikern, Ernährungsmedizinern und Genetikern versuchte er, dem Phänomen auf die Schliche zu kommen. „Die Analyse des Alterns bietet uns zwei Möglichkeiten: Wir können ein kürzeres Leben mit mehreren Jahren mit Einschränkungen und körperlichen Beschwerden führen oder wir können ein möglichst langes Leben mit den wenigsten schlechten Jahren führen. Wie meine hundertjährigen Freunde mir gezeigt haben, liegt die Wahl weitgehend bei uns", verspricht Buettner. Sollte Buettner damit tatsächlich die Methusalem-Formel geknackt haben? Und können wir mit seinen Erkenntnissen alle älter werden?
Eine der Blue Zones ist Ikaria in Griechenland. 8.000 Einwohner zählt die Insel, die unter anderem dadurch herausragt, dass sie weltweit eine der niedrigsten Sterberaten im mittleren Alter hat. Buettner führt dies unter anderem auf die Mittelmeerdiät zurück, die aus viel Gemüse, Fisch und natürlich Olivenöl besteht. Die Bewohner haben ihre eigenen Thesen dazu. Ein Einwohner etwa geht davon aus, dass es neben biologisch angebautem Gemüse und sauberem Wasser vor allem die stete Brise des Meeres sei, die alle dort so gesund mache. Andere Bewohner betonen die besondere Herzlichkeit und den Sinn für Gemeinschaft auf der Insel.
Auch eine andere Inselgruppe zählt zu den Blue Zones. Okinawa liegt ganz im Süden Japans. Dort herrscht subtropisches Klima. Die Menschen ernähren sich zwar nicht gemäß der Mittelmeerdiät, aber auch auf ihre Art und Weise gesund. Hier werden Süßkartoffeln, Soja und jede Menge Gemüsesorten angebaut. Doch noch wichtiger als das, was sie essen, ist, wie sie es essen: Die Menschen in Okinawa haben sich Strategien zurechtgelegt, um nicht zu viel zu essen – eines der Hauptprobleme in den USA und in Deutschland. Sie benutzen kleinere Teller, lassen das Essen oft in der Küche stehen und nehmen nur ihre Portion mit zum Esstisch. Die Bewohner leben nach Konfuzius, der einst geraten hat, nur 80 Prozent zu essen, um Völlerei zu vermeiden. Im Norden von Okinawa wohnen die ältesten Frauen der Welt. Die Menschen haben hier das längste Leben ohne Gebrechen. Es gibt fünfmal mehr Hundertjährige als etwa in den USA.
Gute Ernährung und soziale Strukturen
Neben der Ernährung scheint das lange Leben und die Gesundheit bis ins hohe Alter auf der japanischen Inselgruppe aber auch von anderen Faktoren beeinflusst. Die Bewohner haben gute soziale Strukturen etabliert. Wer geboren wird, bekommt sofort eine Gruppe Freunde an die Hand, die sie oder ihn in ihrem Leben begleiten sollen. „Moai" nennen sie das. Wer Teil eines Moai ist, darf sein Glück freigiebig teilen. Im Fall von Unglück gibt es immer eine Gruppe, die hilft und unterstützt. Klazuko Manna, die mit 77 Jahren die jüngste ihrer Moai war (das kollektive Alter betrug 450 Jahre), erzählte den Forschern: „Jedes Mitglied weiß, dass die anderen Mitglieder auf es zählen und es auch immer auf die anderen zählen kann. Wenn man krank wird, der Mann stirbt oder einem das Geld ausgeht, weiß man, es wird einem jemand zur Seite springen und helfen. Man kommt sehr viel leichter durchs Leben, wenn man weiß, dass es ein Sicherheitsnetz gibt." Über diese sozialen Strukturen hinaus pflegen die Einwohner von Okinawa eine Tradition, die sie „Ikigai" nennen. Das bedeutet: „Der Grund, warum man morgens aufwacht." Wichtiger als materieller Erfolg ist demnach, dass man im Leben seine Berufung findet und diese bis ins hohe Alter lebt. Für Ruhestand existiert dort nicht einmal ein Wort. So berichtet Buettner etwa von über 80-Jährigen, die noch täglich für den jährlichen Zehnkampf trainieren.
Ebenfalls am Wasser gelegen, reiht sich auch die Nicoya-Halbinsel in Costa Rica bei den Blue Zones ein. Die Sterblichkeitsrate im mittleren Alter ist hier am niedrigsten, die Region ist wirtschaftlich abgesichert und verfügt über eine hervorragende Gesundheitsversorgung. Aber laut Buettner sind weitere Faktoren im Spiel. „Plan de vida", Plan fürs Leben, nennen die Einwohner ihr Konzept, bei dem es darum geht, einen tieferen Sinn und eine Bestimmung für ihr Leben zu erkennen und dadurch zur Gemeinschaft beizutragen. Das führt zu einer positiven Ausrichtung des Geistes und hält die Bewohner bis ins hohe Alter aktiv. Die Gemeinschaft ist auch hier ein starker Faktor. Die Hundertjährigen in Nicoya besuchen häufig ihre Nachbarn und wohnen oft mit ihren Familien unter einem Dach, die sie unterstützt. Sie trinken sehr kalziumhaltiges Wasser, und auf ihrem Speiseplan stehen besonders häufig Kürbis, Mais und Bohnen.
Sinn finden, indem man anderen hilft
Außer in Ikaria, Okinawa und auf der Nicoya-Halbinsel fanden die Wissenschaftler auch in der kalifornischen Kleinstadt Loma Linda Menschen, die besonders alt werden. Dort leben besonders viele Siebenten-Tags-Adventisten. Diese christliche Religionsgemeinschaft ist schon länger Gegenstand der Forschung: In den „Adventist Health Studies" wurde über 40 Jahre hinweg untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen den Ernährungsgewohnheiten der Adventisten und ihrer hohen Lebenserwartung gibt. Buettner zufolge leben sie zehn Jahre länger als der durchschnittliche Kalifornier. Die Wissenschaftler glauben, dass die Bewohner seltener an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs erkranken, weil die Adventisten sich pflanzlich und natürlich ernähren, keinen Alkohol trinken und nicht rauchen. Interessanter Ernährungsfakt: Adventisten, die fünfmal wöchentlich eine Ration Nüsse essen, leben im Schnitt zwei Jahre länger und haben nur ein halb so hohes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie die anderen Teile der Gemeinschaft. Abgesehen von der Ernährung sagen die Adventisten auch, dass ihr Glaube sie gesund halte. Einmal wöchentlich findet in Loma Linda ein 24-Stunden-Sabbath statt, bei dem die Adventisten sich auf Familie, Freundschaft und ihren Gott fokussieren. Die Kirche bestärkt ihre Mitglieder außerdem darin, sich freiwillig für die Gemeinschaft zu engagieren. Menschen wie die 100-jährige Marge Jetton bleiben dadurch fit und finden Sinn darin, anderen zu helfen.
Die ältesten Männer der Welt fanden die Wissenschaftler in der fünften Blue Zone in Sardinien, genauer gesagt in der bergigen Nuoro-Provinz im Landesinneren. Im Jahr 2004 machte sich das Forschungsteam erstmals auf den Weg, um eine seltene genetische Eigenart der Bewohner zu untersuchen. Der sogenannte M26-Marker ist mit einer außergewöhnlichen Langlebigkeit verbunden, und aufgrund der geografischen Isolation sind die Gene der Bewohner dieser Region Sardiniens nahezu unverdünnt geblieben. Das Ergebnis: Fast zehnmal mehr Hundertjährige pro Kopf als in den USA. Die alten Leute sind noch äußerst vital, fahren etwa mit dem Moped zur Arbeit oder leben aufgrund des kargen Landes als Hirten. Das bedeutet zwar regelmäßige, aber nicht übermäßig harte körperliche Arbeit. Die Einwohner jagen, fischen und ernten die Nahrung, die sie essen, immer noch selbst. Pflanzen, ungesäuertes Brot, Käse von ihren Weidetieren (reich an Omega-3-Fettsäuren) und ein Wein, der besonders viele Polyphenole enthält, zählen zu ihren häufigsten Nahrungsmitteln. Dazu kommt die Art, wie ihre Gesellschaft aufgebaut ist und vor allem, wie sie alte Menschen behandelt. Sie bleiben ein Leben lang eng mit Freunden und Familie verbunden und verehren die Alten. Dort gilt: Je älter, desto angesehener. Statt irgendwelcher jungen Stars und Talente werden eher die Hundertjährigen geehrt.
Das Leben in den verschiedenen Blue Zones weist also einige Gemeinsamkeiten auf. So sind alle in gewisser Weise isoliert. Sie sind entweder Inseln, Halbinseln, gebirgige Regionen oder Kleinstädte. Ihre Bewohner leben noch vergleichsweise traditionell. Häufig ernähren sie sich von der Landwirtschaft und sind als Hirten oder Fischer regelmäßig in Bewegung an der frischen Luft. Entsprechend essen die Menschen hauptsächlich das, was bei ihnen in der direkten Umgebung wächst oder gefangen werden kann. Verarbeitete Lebensmittel werden kaum gegessen. Vor allem aber sind die sozialen Netzwerke und Strukturen in den Blue Zones sehr stark. Die Menschen dort bleiben bis ins hohe Alter in den Familien- und Freundeskreis eingebunden und gestalten aktiv das Leben mit. Die Bewohner sehen häufig einen Sinn in ihrem Leben, folgen ihrer Bestimmung oder haben einen Lebensplan. Sie wissen, wofür sie morgens aufstehen und suchen sich eine erfüllende Arbeit oder ein erfüllendes Hobby. Außerdem besitzen sie ein effektives Stress-Management. Sie machen Pausen, egal ob als Mittagsschläfchen, 24-Stunden-Sabbath oder größere Auszeit.
Alle Blue Zones sind in gewisser Weise isoliert
Will man von ihnen lernen, ist ihre Lebensweise sicher ein wichtiger Schlüssel dazu. Dennoch ist das Geheimnis eines langen Lebens damit nicht final gelüftet. Denn eine systematische Untersuchung und ein Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen fehlen. Möglicherweise gibt es auch andere Gegenden auf der Welt, auf die diese Punkte zutreffen und in denen die Menschen nicht so alt werden. Zudem drängt sich die Frage auf, ob vielleicht alleine die Gene der Bewohner zu einem längeren Leben beitragen. Erste Forschungsergebnisse scheinen dem zu widersprechen. Eine dänische Zwillingsstudie etwa zeigte, dass der genetische Einfluss auf unsere durchschnittliche Lebenserwartung nur zehn Prozent beträgt. Auch eine Untersuchung der Menschen von Nicoya kommt zu einem ähnlichen Schluss. Dort stellte man fest, dass die Bewohner, die aus der Blue Zone wegziehen, nicht mehr überdurchschnittlich alt werden.
Auch wenn nicht mit letzter Sicherheit nachgewiesen werden kann, warum genau die Bewohner der Blue Zones so alt werden, so deckt sich ihr Lebensstil mit dem, was wir gemeinhin für gesund halten. Das Geheimnis eines langen Lebens wird die Altersforschung also auch in den nächsten Jahren noch beschäftigten. Lernen kann man von den Blue Zones und ihren Einwohnern aber schon jetzt einiges.