Die Länderspiele im September sollten zeigen, wie weit das Team von Bundestrainer Joachim Löw nach dem Umbruch ist. Doch nach dem 2:4 gegen die Niederlande und dem 2:0 in Nordirland stehen am Ende eigentlich mehr Fragen als Antworten. FORUM versucht, die wichtigsten davon zu beantworten.
Ist die Europameisterschaft in Gefahr?
Normalerweise nicht ernsthaft. Den Direktvergleich gegen die Niederländer hat die deutsche Nationalmannschaft zwar verloren, aber auch der Tabellenzweite qualifiziert sich für die Euro. Und da ist das DFB-Team nach dem Sieg beim einzigen Rivalen Nordirland klar im Vorteil. Zudem hat auch der Dritte noch eine kleine Chance, bei der paneuropäischen EM dabei zu sein.
Haben wir nun einen neuen Torwart-Krieg?
Im Tor kann nur einer spielen. Zudem gelten Torhüter als etwas extravagant. Und Deutschland gilt seit Jahrzehnten als Land der Torhüter. Deshalb gab es immer wieder legendäre Torhüter-Rivalitäten. Toni Schumacher gegen Uli Stein zum Beispiel. Oder auch Oliver Kahn gegen Jens Lehmann. In Manuel Neuer und Marc-André ter Stegen konkurrieren nun der wieder fitte mehrfache Welttorhüter vom FC Bayern München und die Nummer eins des FC Barcelona um den Platz im Tor. Ter Stegen wäre wohl in fast jedem Land der Welt die Eins, in Deutschland ist er die Zwei. Bisher hat sich der auch schon 27-Jährige immer ruhig und kollegial verhalten. Auch als Neuer trotz langer Verletzung zur WM mitgenommen wurde, während viele Experten schon den Ex-Gladbacher als die bessere Lösung ansahen. Nun kippte die Stimmung bei ter Stegen. Löw hatte ihm Einsätze in Aussicht gestellt, und so hoffte er zumindest auf das Nordirland-Spiel. Nach der Niederlage gegen die Niederlande ließ Löw aber wieder Kapitän Neuer spielen. Der 33-Jährige hat sich in der Tat stabilisiert, seine Leistungen bieten wenig Anlass zur Kritik. Dennoch war dies nun ein Zeichen an ter Stegen nach dem Motto: Wenn es wichtig wird, spielt er nicht. Das ist das Los der Nummer zwei, doch das war für ter Stegen zu viel. Dass er nicht gespielt habe, sei „ein harter Schlag" gewesen, sagte er danach: „Es ist nicht einfach, eine Erklärung für das zu finden, was ich erlebe." Neuer, der sich sonst als Kapitän beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft noch nicht durch viele Klartext-Ansagen hervorgetan hatte, reagierte verschnupft. „Er hat bei der Nationalmannschaft nichts gesagt. Ich weiß nicht, ob uns das hilft", sagte er und mahnte ter Stegen zu mehr Teamgeist: „Wir sind eine Mannschaft und sollten alles dafür tun, dass wir als Mannschaft auftreten. Auch wir Torhüter müssen zusammenhalten." Bundestorwarttrainer Andreas Köpke erklärte gnädig, dass er mit beiden Aussagen kein Problem habe, weil nichts unter die Gürtellinie gegangen sei. Dennoch birgt die Personalie große Brisanz. Löw könnte Neuer als Nummer eins stärken und ter Stegen den Platz nach der EM versprechen. Doch damit würde er das Leistungsprinzip außer Kraft setzen.
Muss Mats Hummels zurückkehren?
Beim 2:4 gegen die Niederländer zeigte sich vor allem die Defensive um Jonathan Tah, Matthias Ginter und Niklas Süle als anfällig. Doch das sind aktuell die besten Spieler. Nur Antonio Rüdiger fehlte verletzt. Deshalb fordern einige die Rückkehr des Dortmunders Hummels. Die ist aktuell zwar noch nicht notwendig. Das Problem ist aber, dass Löw mit seiner „Basta"-Ausbootung eben auch hier das Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt hat. Er kann Hummels eigentlich nicht zurückholen –
weder bei wachsenden Problemen in seinem Team, noch bei einer überragenden Saison des Weltmeisters –, ohne das Gesicht zu verlieren. Hummels selbst hat bereits mehrfach betont, dass das Kapitel für ihn noch nicht beendet ist.
Wieso spielt Kai Havertz nicht?
Laut transfermarkt.de ist in der Bundesliga nur der Dortmunder Jadon Sancho wertvoller als der Mittelfeldspieler von Bayer Leverkusen (100 Millionen Euro zu 90). Auch bei der Wahl zu „Deutschlands Fußballer des Jahres" kam Havertz auf Rang zwei hinter Marco Reus. In der Bundesliga spielt Havertz dominant, geht voran, ist torgefährlich und wirkt komplett ungefährdet abzuheben. Doch für Joachim Löw ist er bisher nur ein Joker. Dabei sieht er in ihm „den Spieler der kommenden Jahre". Er wisse genau, was Havertz kann, beteuerte der Bundestrainer. Er habe aber starke Konkurrenz und solle „behutsam aufgebaut und integriert werden. Auch Leroy Sané brauchte in der Nationalmannschaft seine Zeit, die jetzt bei ihm gekommen ist." Damit spricht Löw das Problem aber an. Havertz darf kein zweiter Fall Sané werden. Der wurde (zu) lange hingehalten, war frustriert und fuhr letztlich nicht zur WM. Eigentlich gehört Havertz schon jetzt in die Mannschaft. Spielt er in dieser Saison genauso konstant wie in der vergangenen, muss Löw ihn spätestens bei der EM bringen.
Hat Jonas Hector der Gang in die Zweite Liga doch geschadet?
Jonas Hector hatte Löw nicht gefragt, bevor er sich entschied, mit dem 1. FC Köln in die Zweite Liga zu gehen. Danach sagte der Bundestrainer aber, dass das für ihn kein Problem sei. Die Wahrheit sieht anders aus. Das Zweitliga-Jahr und das „Positions-Hopping" zwischen seinem Stammplatz links hinten und dem zentralen Mittelfeld hat Hector geschadet. Der Platzhalter als Linksverteidiger ist inzwischen der Dortmunder Nico Schulz. Und als der in Nordirland ausfiel, spielte Leipzigs Marcel Halstenberg. Und traf sogar. Hector ist demnach aktuell die Nummer drei und muss sogar um seinen Kaderplatz für die EM zittern.
Wird die defensive Leipziger Flügelzange sich festspielen?
In Nordirland spielte nicht nur Halstenberg als linker Außenverteidiger, sondern sein Vereinskollege Lukas Klostermann als rechter. Das könnte es öfter geben. Klostermann ist derzeit Favorit auf dieser Position, falls Joshua Kimmich bei Löw im Mittelfeld bleibt. Links ist Halstenberg wie gesagt die Nummer zwei hinter Schulz, aber vor Hector.
Hat Deutschland keine Mittelstürmer mehr?
Man muss wohl deutlich sagen: aktuell nicht. Diejenigen, die in der Bundesliga für Furore sorgen, sind Ausländer: Der Pole Robert Lewandowski bei den Bayern und der Spanier Paco Alcácer in Dortmund. Flügelstürmer hat Deutschland viele: Sané, der im Nationalteam immer starke Serge Gnabry, Marco Reus, Julian Brandt. Auch Timo Werner sieht sich nicht in erster Linie als Mittelstürmer.
Wieso spielt Reus in der DFB-Elf längst nicht so gut wie in Dortmund?
Das hängt extrem mit der Frage davor zusammen. Reus muss wie Gnabry oder Werner oft den Mittelstürmer geben. Und das liegt ihm nicht. In Dortmund fühlt er sich mit allen Freiheiten hinter Alcácer pudelwohl. Und wenn er in der Nationalelf auf der Zehn spielen darf, ist es mit Werner oder Gnabry ein anderes Spiel als in Dortmund hinter dem Spanier. Reus und Löw müssen gemeinsam eine Position finden, um den „Fußballer des Jahres" auch im DFB-Team wirklich gewinnbringend einzusetzen.
War Joachim Löws Job-Garantie für Serge Gnabry falsch?
Serge Gnabry spielt, sagte Löw vor dem Spiel gegen die Niederlande auf eine entsprechende Nachfrage und fügte an: „Serge Gnabry spielt immer." Das ist aktuell vollauf verdient, zumal der Münchner regelmäßig trifft, auf Außen seine Leistung bringt und als Mittelstürmer derzeit die beste Notlösung zu sein scheint. Dennoch sind solche Aussagen langfristig schwierig. Weil sie im Fall einer Krise des Spielers eben auch hier entweder das Leistungsprinzip aussetzen. Oder von Löw wieder einkassiert werden müssen.
Und zu guter Letzt: Ist Löw noch der richtige Bundestrainer?
Schwer zu sagen. Viele glauben, der Bundestrainer hätte auf dem Höhepunkt nach dem WM-Titel 2014 zurücktreten müssen. Andere hätten den Schritt spätestens nach dem Russland-Debakel an der Zeit gesehen. Löw machte weiter, zunächst ohne schlüssig wirkendes Konzept und Mut zum Umbruch. Als er diesen fasste, wirkte dies im Fall von Hummels, Müller und Boateng zu absolut. Bei Havertz gibt sich der Bundestrainer schließlich wieder zaudernd. Das Gespür für richtige Situationen lange eine Stärke Löws, geht ihm immer öfter ab. Sein Bleiben war auch einem Mangel an Alternativen und der unsicheren Position des damaligen DFB-Präsidenten Reinhard Grindel zu verdanken. In Fritz Keller bekommt Löw auf dieser Position einen badischen Landsmann und klaren Fürsprecher an die Seite gestellt. Alle diese Chancen sollte er beherzt nutzen. Eine weitere Blamage bei der Europameisterschaft dürfte er sich bestimmt nicht mehr erlauben.