„Ich bin immer noch stolz". Das sagt Heinz Joachim Schöttes. Vor 30 Jahren schrieb er als junger Ost-Berlin-Reporter Geschichte. Er war es, der Michail Gorbatschow den Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" in den Mund legte – als eine sehr freie Übersetzung aus dem Russischen.
Es ist der Herbst 1989. Gerade einmal acht Wörter kratzen tiefe Löcher ins Fundament des maroden Regimes der DDR. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Dieser Satz ist längst in die Geschichtsbücher eingegangen. Zugeschrieben wird er Michail Gorbatschow, dem letzten Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Er soll ihn vor genau 30 Jahren, am Rande der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung in Ost-Berlin gesagt haben. Doch stammt dieser Satz wirklich vom damaligen Kreml-Chef? Es gibt keinerlei Tonband- oder Filmaufnahme davon. Die kann es auch nicht geben. Denn: „Diesen Satz hat Gorbatschow so auch nicht gesagt." Das sagt Heinz Joachim Schöttes. Vor 30 Jahren war er als junger Reporter für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) in Ost-Berlin.
Rückblende ins Jahr 1989: Die Stimmung in der damaligen DDR ist gespenstisch, niemand weiß in dieser Zeit, wie es mit dem Staat weitergehen wird. Seit Monaten fliehen immer mehr DDR-Bürger – meist über Ungarn – in den Westen. Und auch in der DDR selbst ist der Aufbruch zu spüren. Die Menschen, die noch geblieben sind, gehen auf die Straße. Vor allem in Leipzig und in Ost-Berlin gibt es regelmäßig Demonstrationen. Die DDR-Bürger wollen Meinungsfreiheit. Viele von ihnen wollen auch einfach einmal in den Westen reisen oder Urlaub auf Mallorca, in Portugal oder in Italien machen. In dieser politischen Gemengelage landet Michail Gorbatschow im Oktober auf dem Regierungsflughafen Berlin-Schönefeld. Die Riege um den ehemaligen Staats- und Regierungschef Erich Honecker erhofft sich Rückendeckung von dem populären Besuch aus Moskau. „Doch daraus sollte nichts werden", erinnert sich Schöttes. „Überall hofften die DDR-Bürger auf politisches Tauwetter. Egal, wo der Kreml-Chef auftauchte, wurde er mit begeisterten ‚Gorbi, Gorbi-Rufen‘ begrüßt."
Alle hofften auf politisches Tauwetter
6. Oktober 1989: Der KPdSU-Chef legt an der Berliner Gedenkstätte Neue Wache einen Kranz für die Opfer des Faschismus nieder. In der Reportermenge vor der Neuen Wache steht auch Schöttes. „Ich erinnere mich genau. Gorbatschow ließ die Kamerateams aus dem Osten links liegen und steuerte geradewegs auf uns West-Reporter zu. Dann sagte er: Ich glaube, Gefahren lauern nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren." Diese komplizierte Satzkonstruktion ist natürlich nicht das Zitat, das später um die Welt ging. Schöttes: „Dazu kam es auch erst später – am 7. Oktober um 18.30 Uhr."
Zeitgleich führen zwei Tickermeldungen der dpa und der US-Agentur Associated Press (AP) die berühmten acht Worte an. Vorher gab es ein Vier-Augen-Gespräch zwischen Gorbatschow und Honecker. Die dpa lieferte zu den acht Worten die Ergänzung: „Beobachter werteten dies als indirekten Hinweis, dass auch in der DDR ähnliche Reformen wie in der Sowjetunion im gesellschaftlichen Bereich eingeführt werden sollen."
Doch wie kam dann der Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" zustande? „Ich stand mit einem Kollegen von der AP vor dem Staatsratsgebäude der DDR zusammen", erinnert sich Schöttes. „Wir mussten ja die ganze Zeit neue Informationen liefern. Offizielle Interviews mit uns West-Reportern gab es nicht." Irgendwann sei dann der Sprecher von Gorbatschow, Gennadi Gerassimow, mit einem Übersetzer herausgekommen. „Er gab ein Statement ab, eine unglaublich verschachtelte Satzkonstruktion. Das war so nicht berichtbar", erinnert sich Heinz Joachim Schöttes. „Wir haben dann gemeinsam nach der treffendsten Übersetzung gesucht. Gemeinsam mit dem AP-Kollegen haben wir unsere Aufzeichnungen abgeglichen und haben uns auf diese Interpretation des Gesagten verständigt." Die dpa wies damals darauf hin, dass Gerassimow Gorbatschows Worte lediglich wiedergegeben habe. Schöttes: „Wir ahnten ja nicht, welche weltweite Wirkung unsere Sätze entfalten würden." Übrigens: Wenige Tage später löschte Schöttes das Band mit seinen Aufzeichnungen, um Platz für neue Interviews zu machen. „Damals gab es ja neue Entwicklungen im Minutentakt." Was Gerassimow genau gesagt hatte, ist deshalb heute nicht mehr zu klären. Gorbatschow selbst fühlt sich aber offensichtlich bis heute gut zitiert. Die Worte „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" hat der ehemalige Kreml-Chef unter anderem in seine Memoiren aufgenommen.
„Die Arbeit vor 30 Jahren macht mich nach wie vor stolz und ich denke oft daran zurück", erzählt Schöttes. „Man vergisst ja auch in dieser langen Zeit viele Details. Aber die Sache mit dem Gorbatschow-Zitat ist ja nur ein Aspekt von dem, was wir 1989 erlebt haben." So erinnert sich Schöttes zum Beispiel daran, dass er damals häufig die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin überqueren musste. „Wir hatten damals eine offizielle Berichterstatterlizenz für die DDR. Das machte vieles einfacher. Wir konnten mit unserem dpa-Fahrzeug relativ problemlos über die Grenze fahren", erzählt Schöttes und lächelt. Das Fahrzeug war ein weißer VW-Passat. „Trotzdem haben wir eine Menge Zeug für die DDR-Opposition hin- und hergebracht – zum Beispiel Literatur." Manchmal habe man auch Flugblätter im Gepäck gehabt.
Schabowskis legendäre Pressekonferenz
Das galt auch für Schöttes Journalistenkollegen. So unterstützte ein amerikanisches Team die Arbeit der Ost-Kollegen. „Wir haben oft heimlich gedrehtes Filmmaterial mitgebracht und im Westen verbreitet", erinnert sich ein US-Fernsehjournalist. „Wir hatten das Material im Kofferraum, dass ARD und ZDF dann umgehend ausgestrahlt haben." Auf diesem Weg seien etwa die Bilder der Montagsdemonstrationen in Leipzig in den Westen und ins West-Fernsehen gelangt. Das Material sei meist von DDR-Kameraleuten gekommen, die den Westkollegen die Kassetten heimlich zusteckten. Ihren Chefs beim DDR-Fernsehen erzählten sie dann, dass es technische Probleme beim Drehen gab.
Zurück zu Heinz Joachim Schöttes: „Eine weitere positive Erinnerung sind die Kollegen, die man damals so hatte. Wir waren ja eine relativ überschaubare Truppe im damaligen West-Berlin." Zu Schöttes Kollegen zählte zum Beispiel der damalige „Bild"-Korrespondent Peter Brinkmann. „Mit dem habe ich eine Menge erlebt", erinnert er sich. „Wir waren gemeinsam auf der Maueröffnungs-Pressekonferenz, durch die Brinkmann bekannt geworden ist." Dessen Rolle war die des Fragenstellers bei der legendären Pressekonferenz mit dem Berliner SED-Chef Günter Schabowski. Brinkmann fragte Schabowski nach dem Inkrafttreten der neuen Verordnung. „Wann tritt das in Kraft?" Schabowski antwortete mit dem vielzitierten Satz: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort …, unverzüglich."
Die Ereignisse, die auf diesen Satz folgten, sind bekannt. Innerhalb von Stunden drängten sich Zehntausende DDR-Bürger an den Grenzen zum Westen – schließlich fiel die Mauer. „Es war halt beruflich wirklich eine bewegende Zeit", bilanziert Schöttes. „Zu Peter Brinkmann habe ich auch heute noch Kontakt."
Erst kürzlich haben sich die beiden getroffen. Schöttes: „Uns hatte eine Pressesprechervereinigung angetragen, die Ereignisse von 1989 realistisch nachzuzeichnen. Das ist natürlich ein spannendes Projekt, um sich die bewegenden beruflichen Erlebnisse der Wendezeit noch einmal vor Augen zu führen."