Seit Jahresbeginn mischt Oliver Kahn beim FC Bayern mit. Nach einer zweijährigen „Lehre" soll er neuer Vorstandschef werden – mit dem Segen der bisherigen Alphatiere im Club.
Praktikant? Wer Oliver Kahn so bezeichnet, muss mit einem bösen Blick und einer klaren Ansage rechnen. „Bei dem Wort ‚Praktikum‘ wäre ich ein bisschen vorsichtig", sagt der frühere Nationaltorhüter warnend. In der freien Wirtschaft gibt es für die Anstellung des 50-Jährigen beim Rekordmeister einen treffenderen Begriff: Trainee. Eine qualifizierte Person wird durch spezielle Förderprogramme und den beschleunigten Einblick in wichtige Bereiche zur Führungskraft aufgebaut.
Nach seiner zweijährigen „Lehre" soll Kahn ab dem 1. Januar 2022 genau das beim FC Bayern sein: der neue Boss. Der frühere Bayern-Torhüter wird Karl-Heinz Rummenigge ablösen – sofern dem derzeitigen Chef nicht noch irgendwelche Zweifel an diesem Plan kommen. Doch davon ist nicht auszugehen, Kahn ist kein Kompromiss-Kandidat wie Sportdirektor Hasan Salihamidzic. Kahn genießt bei Rummenigge, Aufsichtsratschef Uli Hoeneß und Clubpräsident Herbert Hainer große Wertschätzung. Kahn sei „die perfekte Lösung", glaubt daher Hoeneß, „er trägt die DNA des FC Bayern in sich". In der Tat verkörpern nur wenige Ex-Profis das „Mia san mia" des Branchenprimus so glaubhaft wie Oliver Kahn, der mit dem Club in 14 Jahren nicht nur deutscher Meister (achtmal), DFB-Pokalsieger (sechsmal), Uefa-Cup-Sieger (1996) sowie Champions-League- und Weltpokal-Gewinner (jeweils 2001) wurde. Kahn war auch „Titan", Heißmacher („Eier, wir brauchen Eier!") und Erfolgsbesessener („Weiter, immer weiter!").
Klar ist aber auch: So polarisierend wie als Spieler darf Kahn als Vorstandschef einer AG mit einem Umsatz von 750 Millionen Euro nicht auftreten. Und das weiß er auch. Unternehmerisch seien „Emotionen nicht so gut", sagt Kahn und fügt scherzhaft an, er werde „nicht durch den Meeting-Raum grätschen". Für Rummenigge ist der ruhigere Kahn der bessere Manager. „Die menschliche Entwicklung bei ihm finde ich nicht nur bemerkenswert, sondern auch wohltuend", sagt Bayerns Vorstands-Vorsitzender. Doch ganz ohne Emotionen wird Kahn auch im Anzug nicht auskommen. „Es kann schon sein", sagt der 86-malige Nationalspieler, „dass der Vulkan wieder ausbricht. Aber da muss schon ziemlich viel passieren." So ganz genau weiß er selbst noch nicht, wie er in seiner neuen Position reagiert, wenn er den FC Bayern zum Beispiel durch eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters benachteiligt sieht oder ein Spieler einen Ego-Trip fährt. „Wenn ich jetzt wieder involviert bin", sagt Kahn, „muss ich mich auch erst mal wieder neu entdecken."
„Die menschliche Entwicklung finde ich bemerkenswert"
Auch die letzten Jahre hat der Vizeweltmeister von 2002 genutzt, um sich neu zu entdecken. Er stieg beim ZDF als Experte ein, nach anfänglicher Kritik fand Kahn dort immer öfter den richtigen Ton. Außerdem nutzte der frühere Keeper seine enorme Popularität in Asien, um sich in der TV-Casting-Show „China sucht den neuen Super-Torhüter" als Jurymitglied gut bezahlen zu lassen. Er unterstützte die Torhüter-Ausbildung in Saudi-Arabien, wo eigens eine „Oliver Kahn International Academy" geschaffen wurde. Und er gründete das Unternehmen „Goalplay", das künftige Torhüter online schulen will. Am wichtigsten für seine Anstellung beim FC Bayern ist aber sein Abschluss des BWL-Studiums in Österreich. Der Titel seiner Abschlussarbeit lautete „Strategisches Management im deutschen Profifußball". Er habe zwischendurch immer mal wieder an diesem zweiten Bildungsweg gezweifelt, sagte Kahn einmal über seine Studienzeit: „Das war wie ein großer Berg, vor dem ich stand." Rummenigge aber ist froh, dass Aufgeben für Kahn auch auf der Schulbank nicht infrage kam. Es sei hervorragend, so Rummenigge, dass Kahn sich „auf dem zweiten Bildungsweg mit Finanzen und Wirtschaft seriös auseinandergesetzt" habe. Denn im schwierigen Wettstreit mit internationalen Topclubs wie Manchester City, dem FC Barcelona oder dem FC Liverpool reiche Erfahrung als Profi allein nicht mehr aus. „Die Geschwindigkeit im Fußball war nicht nur auf, sondern auch außerhalb des Platzes geringer. Für Oli geht das jetzt alles schneller."
Viel Zeit zum Lernen bleibt nicht. Schon jetzt darf, ja muss Kahn bei wichtigen Entscheidungen Stellung beziehen. Als in der Winterpause der spanische Außenverteidiger Álvaro Odriozola von Real Madrid ausgeliehen wurde, war auch der Vorstands-„Azubi" involviert. „Er hat sich den Spieler angeschaut und sich mit ihm detailliert auseinandergesetzt", berichtet Rummenigge. „Oli war absolut dafür, dass wir den Spieler verpflichten."
Noch nicht die komplette Entscheidungshoheit zu besitzen, ist für das Alphatier Kahn offenbar kein Problem – ganz im Gegenteil. Für ihn sei es „absolut super", dass Rummenigge seinen Vertrag nochmals verlängert habe und ihn einarbeiten könne. Es gebe „nichts Besseres, als wenn man Stück für Stück in so einen Verein hineinwächst und von jemandem lernen kann, der diese Aufgabe viele Jahre macht." Doch nicht nur Rummenigge wird ihm wertvolle Tipps geben. Kahn soll alle Abteilungen des Vereins für einen gewissen Zeitraum durchlaufen und dabei kennenlernen. Außerdem soll er die internationalen Aktivitäten des Clubs in den Büros in New York und Shanghai zeitweise begleiten. „Oliver", betont Rummenigge, „muss den FC Bayern jetzt noch einmal von der Pike auf kennenlernen." Kahn fällt es deshalb auch schwer zu erklären, wo genau er mit seiner Arbeit ansetzen möchte. Er müsse sich „erst mal einen Einblick verschaffen, um sinnvolle Aussagen darüber machen zu können, was man verändern kann". Was er aber definitiv nicht ändern will: Der FC Bayern soll auch unter seiner Regie vom Erfolg bestimmt werden. Es sei klar, so Kahn, „dass es beim FC Bayern nur darum gehen kann, dass wir überall, wo wir dabei sind, spitze sein wollen, dass wir die Nummer eins sein wollen". Und das nicht irgendwie, sondern „mit Weltklassefußball".
Kahn soll alle Abteilungen des Vereins durchlaufen
Dieses Prädikat will der künftige Bayern-Boss aufgrund explodierender Ablösesummen auf dem Transfermarkt verstärkt selbst ausbilden. „Der FC Bayern darf sich nicht treiben lassen von den Summen, die heute gezahlt werden", sagte Kahn, als er sich beim Verwaltungsbeirat vorstellte. Den Nachwuchsbereich will Kahn mit Geld und Know-how „in die absolute Spitze" führen, die eigenen Jugend-Mannschaften sollen durchgehend mit einer Spielphilosophie auftreten, „die absolut Bayern-like ist", verrät Kahn. Also ausgerichtet auf Ballbesitz, Dominanz und Passspiel. Die Talente-Ausbildung sei „ein absolutes Topthema, nicht nur für den FC Bayern, sondern für den deutschen Fußball überhaupt", meint Kahn. Ihm sei wichtig, den „regionalen, bayerischen Charakter" bei der Nachwuchsarbeit zu behalten. Diese würde die Identifikation mit dem Verein und den Fans stärken. „Spieler wie David Alaba, Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger und natürlich Thomas Müller haben Epochen beim FC Bayern mitgeprägt und stehen für diesen Verein", so Kahn. Allerdings hat gerade der FC Bayern zuletzt massiv Geld in internationale Toptalente investiert. Bei Joshua Zirkzee ging die Rechnung auf, der Niederländer gehörte zuletzt dem Profikader an und glänzte sogar als Torschütze.
Kahn will in seiner neuen Rolle auch unbequem sein, hinterfragen und sich für Neues offen zeigen. Unter seiner Regie solle das Team, ja der ganze Verein „vielleicht eine Schippe drauflegen", so Kahn, denn das entspreche seinem Charakter. „Nur was sich weiterentwickelt, was sich verändert, bleibt lebendig." Kahn will zudem auch für den „menschlichen Aspekt" stehen, den zuvor Uli Hoeneß an der Säbener Straße immer hochzuhalten versuchte. Er wolle ähnlich wie sein Ex-Chef auch ein „Kümmerer" für die Spieler sein, die Fans sollen im Club weiter eine „echte Heimat" sehen. „Das hat den FC Bayern in der Vergangenheit von allen anderen europäischen Vereinen unterschieden. Das ist ein Aspekt, der noch wichtiger sein wird als zuvor."
Talenteausbildung „ein absolutes Topthema"
Dass das nicht nur leere Worte sind, bewies Kahn mit einer E-Mail an alle Vereinsmitarbeiter einen Monat nach seinem Dienstantritt. „Die Emotionen, der Erfolgshunger und die starke Verbindung zwischen den Fans und dem Verein", all das habe er „wirklich vermisst". Schon bei seiner Antrittsrede hatte Kahn versprochen, er werde mit „viel Herzblut" seine Arbeit angehen. „Ich habe 14 Jahre bei dem Verein gespielt und wahnsinnig viele emotionale Momente erlebt, Höhen und Tiefen", sagte er. Deshalb könne er auch mit der großen Erwartungshaltung umgehen: „Ich kenne das. Ein großer Trainer des FC Bayern hat mal gesagt: ‚Wer bei Bayern einen Vertrag unterschrieben hat, der muss wissen, was er tut.‘" Dieser legendäre Satz stammt von Otto Rehhagel, der bei den Bayern aber krachend gescheitert war. Kahn will es als Vorstandsboss deutlich besser machen. Zuerst muss er aber seine Probezeit überstehen.