Im kommenden Jahr soll es so weit sein. Für 2021 plant die dänische Stadt Odense die Eröffnung des neuen Hans-Christian-Andersen-Museums. Besucher werden dann in ein märchenhaftes Universum eintauchen können.
Noch ist alles eine riesige Baustelle. Die Corona-Krise hat auch im dänischen Odense für Verlangsamung bei einem der ambitioniertesten Bauprojekte der Stadt gesorgt. Denn die Hauptstadt der Ostseeinsel Fünen ist dabei, das zerteilte Stadtzentrum wieder zusammenzufügen und neu zu gestalten. Eine zentrale Rolle soll dabei das neue Hans-Christian-Andersen-Museum einnehmen, ein spektakulärer Bau des japanischen Stararchitekten Kengo Kuma. Der hat unter anderem das Olympiastadion in Tokio entworfen.
Momentan allerdings lässt sich gerade mal erahnen, wie sich der geschwungene Betonbau mit dem dazugehörigen Gartenlabyrinth künftig in die Altstadt einfügen wird. Ein rundes Hauptgebäude mit mehreren sich anfügenden Kreissegmenten ist schon zu erkennen. Filigran wirkende Betonsäulen stützen die Konstruktion im Inneren.
Henrik Lübker schmunzelt. Für den Kurator des Museums ist der Neubau eines der wichtigsten Projekte in den vergangenen Jahrzehnten. Zwar habe Odense den berühmtesten Sohn der Stadt auch bisher schon sogar mit mehreren Museen gewürdigt. Man habe das Haus, in dem er geboren wurde und das, in dem er als Kind gewohnt habe, für Besucher zugänglich gemacht. Kengo Kumas Bau aber biete die Möglichkeit, Besucher viel intensiver in die Themen- und Gedankenwelt der Andersen-Märchen eintauchen zu lassen.
Die Architektur mit ihren organischen Formen, der geplante Garten mit den Hecken, kleinen Holzpavillons und Wasserflächen, sie sollen mit der Innengestaltung des Museums eine Einheit bilden. Dazu ist man bei der Ausschreibung des Projekts einen ungewöhnlichen Weg gegangen, von innen nach außen gewissermaßen. Denn noch vor der Suche nach dem Architekten ging es um die Innengestaltung, dabei wurde die Stadt Odense bei der Londoner Designfirma Event Communications fündig. Zu deren bekanntesten Projekten gehören unter anderen „The Titanic" in Belfast aber auch Polin, das Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau. Das Markenzeichen der Museumsszenografen: ein interaktiver Ansatz bei der Aufbereitung unterschiedlichster Themen.
Anknüpfungspunkt für Interaktionen mit den Besuchern werden im zukünftigen Hans-Christian-Andersen-Museum in Odense zwölf Märchen des Schriftsellers liefern – darunter Klassiker wie „Die kleine Meerjungfrau" oder „Das hässliche Entlein", erzählt Lübker. Das Museum werde die Besucher mit seiner Szenografie in die Welt Andersens hineinziehen, beispielsweise, indem man durch ein Oberlicht, das wiederum von einem Teich bedeckt sei, durch das Wasser in die Gartenlandschaft blicke. Eine Perspektive, die der der „Kleinen Meerjungfrau" nicht unähnlich sei.
Aus der Perspektive der Andersen-Protagonisten
Und im Gegensatz zum bereits existierenden Andersen-Museum werde es im neuen Gebäude weniger um das Nacherzählen seiner Biografie gehen, sondern in erster Linie um das Fantastische, das manchmal reichlich Unheimliche, das Andersen in so vielen seiner Märchen thematisierte. Ab dem kommenden Jahr, so hoffen die Verantwortlichen in Odense, sollen Museum und das angeschlossene Kinderkulturzentrum „Tinder Box" („Das Feuerzeug") Besucher empfangen können.
Doch auch jetzt schon kann man sich in der 180.000-Einwohner-Stadt auf die Spuren Andersens begeben. Normalerweise, indem man das bisherige Museum besucht – rund 32.000 Exponate umfasst die Sammlung, Gemälde und Skizzen, Scherenschnitte, Bücher, Mobiliar erzählen nach, wie der in Odense geborene Autor hier in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs. Und später zum bekanntesten Schriftsteller Dänemarks werde sollte. Einblicke in Kindheit und Jugend bekommen Besucher auch in Andersens Geburtshaus, einem bescheidenen, gelb getünchten Fachwerkhäuschen, in dem, so erzählt Lübker, zu Andersens Zeit mehrere Familien lebten. Die kleinen Museen sind zwar momentan wegen der Corona-Krise geschlossen. Doch durch die ganze Stadt führt ein Rundweg mit 13 Stationen, buchstäblich in „Andersens Fußstapfen".
Man muss nur den in regelmäßigen Abständen aufs Pflaster aufgetragenen Fußspuren folgen – in Schuhgröße 47. Andersen habe ziemlich große Füße gehabt, grinst Museumskurator Lübker. Die Route startet an Andersens Geburtshaus, einem gelb getünchten kleinen Häuschen in der Altstadt. Hier wurde Hans Christian Andersen 1805 als Sohn eines Schuhmachers und einer Wäscherin geboren. Sie lebten in bescheidensten Verhältnissen, konnten sich den Schulbesuch des Sohns kaum leisten. Doch nachdem die Familie umgezogen war, bekam Hans Christian bei einer in der Nachbarschaft wohnenden Pfarrerswitwe Zugang zu Büchern, wurde in seiner Lust am Lesen, in seinem Interesse an Literatur und am Theater von seinem Vater bestärkt. Vorbei geht es an der Armenschule, der Fattigskole, einem altersschiefen Gebäude aus dem Jahr 1570. Eine Plakette an der Fassade weist auf den berühmtesten Sohn der Stadt hin, der diese Schule wohl zumindest kurze Zeit besuchte.
Eine weitere Station des Rundgangs: die Sankt-Knuds-Kirche, die gotische Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert mit hohem Mittelschiff. Strahlend weiß; Altar, Kanzel und Holzbänke sorgen für dunkle Akzente. Gut kann man sich vorstellen, wie Hans Christian Andersen den Mittelgang der Kirche am Tage seiner Konfirmation entlang paradierte. So habe er es zumindest später selbst beschrieben, sagt Andersen-Experte Lübker. Der Junge hatte neue Leder-Stiefel bekommen, die bei jedem seiner Schritte knarzten. Doch in seinem Stolz auf das für ihn so luxuriöse Schuhwerk habe er an diesem Tage – so schrieb er – „mehr an sich als an Gott gedacht". Ein Motiv, das ihn später möglicherweise zu einigen seiner Märchen inspiriert habe, mutmaßt Lübker. Man denke nur an „Die roten Schuhe" oder „Die Galoschen des Glücks".
In „Andersens Fußstapfen" durch die Stadt Odense
Nach dem Umzug nach Kopenhagen nahm der damalige Direktor des Königlichen Theaters den 14-Jährigen in seine Obhut. Durch Unterstützung des dänischen Königs Friedrich VI. kam Andersen zu einer schulischen Ausbildung. 1831 sollte ihm sein Debüt als Theaterautor gelingen, auch eine erste Sammlung von Gedichten wurde veröffentlicht.
Nicht weit von der Kathedrale ist der Waschplatz, an dem Andersens Mutter die Wäsche der „feinen Leute" im eiskalten Flusswasser säuberte, erzählt Lübker. Nicht weit von hier ist aber auch eine Brücke, die über das Flüsschen Odense führt – zu Andersens Zeiten hatte man auf der anderen Seite bereits die Stadt verlassen. Später wird der Schriftsteller darüber berichten, wie er als Kind zum Bauern geschickt worden sei, um frische Milch zu kaufen. Und sich beeilt hätte, um noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder „auf der sicheren Seite", in der Stadt zu sein.
Die geordnete bekannte Welt mit ihren festgelegten Regeln, daneben das Dunkle, Unbekannte, die Welt der Träume und Halluzinationen, der fantastischen Wesen – diesen Kontrast thematisiert Andersen in so vielen seiner Märchen. Im „Mädchen mit den Schwefelhölzern" beispielsweise ebenso wie in „Der Schatten" oder „Der Tochter des Schlammkönigs". Sie sind poetisch und düster zugleich, und meist nimmt es mit den Protagonisten kein gutes Ende. So, als ob sich Andersen, der sich wegen seines Äußeren, seiner ärmlichen Herkunft und mehrerer unerwiderter Lieben zeitlebens unsicher und zurückgesetzt fühlte, in ihnen, den Marginalisierten, Enttäuschten und Verlassenen widerspiegelt. Auch all das soll das neue Museum ab dem kommenden Jahr interaktiv vermitteln – ein Gesamtkunstwerk, in dem man für die Dauer des Besuchs Teil des Andersen’schen Universums wird.