Dass Schafe die besten und günstigsten Landschaftspfleger sind, haben auch viele Städte mittlerweile erkannt. In der Hauptstadt betreut Schäfer Björn Hagge seine große Herde, die er über das Stadtgebiet verstreut hat.
Der Spätherbst ist eine angenehme Jahreszeit. Buntes Laub bedeckt die Wege, alles wird ruhiger und verlangsamt sich. Noch prachtvoller als zu anderen Jahreszeiten erfreut der farbenfrohe Charlottenburger Schlosspark die Besucher, vornehmlich Touristen, die unbedingt von sich ein Selfie vor der Fassade des Lustschlosses machen müssen. Der 1699 eingeweihte, lang gestreckte Barockgarten ist dafür die ideale Kulisse. Ungezählt die Hochzeitsfotos von angestrengt lächelnden Paaren im Wonnemonat Mai. Wer es gelassener und nervenschonender mag, weicht in den nördlichen Teil des Geländes aus, egal zu welcher Jahreszeit. Statt strenger Linien und künstlicher Bodenornamente beherrschen hier Landschaft und scheinbar unbeschnittene Natur die Szenerie. Von einer künstlichen Anhöhe aus genießt man den weiten Ausblick auf ein Areal, das von der strengen Ordnung absolutistischer Ästhetik befreit wurde. Bäche und Wege schlängeln sich durch waldartiges Gehölz und weite Wiesen.
Eine blökende Schafherde inmitten eines hochherrschaftlichen Schlossparks und ausgerechnet im Moloch der hektischen, ruppigen Millionenmetropole Berlin? Haben sie sich verlaufen und wie viele sind es überhaupt? Es ist nicht einfach, sie zu zählen, denn ständig sind sie in Bewegung, lösen sich aus kleinen Gruppen, die unter Bäumen lagern, trotten vereinzelt und gemächlich durch das knöchelhohe Gras, unbeeindruckt von Kita-Kindern, die neugierig durch die Zaunmaschen gucken. Trotzdem bleiben die Kinder lieber in sicherer Entfernung, denn die Schafe tragen schneckenförmige Hörner, und wer weiß schon, was einem Bock so gerade durch den Kopf geht. Gut 50 Tiere werden es sein, die heute direkt hinter dem Belvedere grasen, eingehegt von einem lockeren, elektrisch geladenen Zaun, der alle vier bis fünf Tage neu gesetzt wird. Es hat zu regnen begonnen. Jetzt aber Kapuzen auf, abzählen und händchenhaltend zurück in die Kita. Die Schafe gucken den Zwergen kaum hinterher, ihre Gemütsruhe ist weder durch kindliche Entzückensschreie noch durch Wetterumschwünge zu erschüttern. Das mag an ihrer robusten Natur liegen. Nur wenn der Schäfer kommt, die Reifen seines Pick-ups mit Anhänger über den Kiesweg knirschen, kommt Bewegung in die Herde. Vor diesem Mann scheinen sie Respekt zu haben, mehr noch vor seinen beiden Bordercollies Jamy und Judy.
Kita-Kinder kommen gern vorbei
Björn Hagge ist der Chef der Charlottenburger Herde, die nur einen kleinen Teil seiner Schafe ausmacht. Es handelt sich um die Rassen Guteschaf und Gotlandschaf aus der Gruppe der nordischen Kurzschwanzschafe, die vor allem in Schweden und seit einiger Zeit auch in Mecklenburg und Sachsen gehalten werden. Im Gegensatz zu den Tieren, die an der Elbe oder an den Deichen der Nordseeküste gehütet werden, gelten Guteschafe als besonders robust und anspruchslos und kommen auch dort zurecht, wo das Futterangebot karger ist als auf fetten Weiden. Ihre Wolle, nicht ihr Fleisch interessiert den Züchter.
Groß, hager und mit wachem Blick, der seine Tiere nie aus dem Auge lässt, strahlt Björn Hagge Gelassenheit aus. Der kann kein Stadtmensch, kein Berliner sein. Der 61-Jährige kommt aus dem Norden, wuchs auf im Landkreis Plön, und schon als Fünfjähriger war er mit einem Schäfer aus der Nachbarschaft unterwegs. Fast jeden Tag, sagt er, weil die Tiere immer so eine Ruhe ausstrahlten und das gefiel ihm. Und es war auch etwas Abenteuerliches dabei, denn der Schäfer zog meistens über weite Truppenübungsplätze und so kam er an geheimnisvolle Orte, in unberührte Ecken. Das ließ ihn nicht mehr los: Tiere und Naturerleben. Nach der Schule studiert Björn Hagge Landwirtschaft, arbeitet als Agraringenieur und widmet sich Projekten, in denen Langzeitarbeitslose in ökologischen Projekten aus ihrer Perspektivlosigkeit herausgeholt werden können. Statt immer wieder stupide Bewerbungskurse zu durchlaufen, übernehmen unter Hagges Anleitung die Betroffenen Verantwortung für nachhaltiges Wirtschaften mit Natur und Tierwelt, und ihre Beschäftigung macht ihnen erstmals wieder wirklich Spaß. 20 Jahre macht Björn Hagge das, aber dann werden die wenigen sinnvollen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingestellt und durch Ein-Euro-Jobs ersetzt, von ernsthafter langfristiger Integration ist nun keine Rede mehr. So geht es nicht. Er kündigt und geht nach Berlin, weil sich hier eine neue Herausforderung bietet: Landschaftspflege in der Stadt durch den Einsatz von Weideschafen.
Behutsamer als Maschinen
Bedächtigt schaltet er den kleinen Stromkasten aus, steigt über den Zaun und stapft durch das feuchte Gras. Heute will er wissen, wie weit seine Schafe die Wiese bereits abgeweidet haben, er schaut, ob eines der Tiere humpelt oder lahmt. Nähert sich Björn Hagge mit der Klauenschere, wird selbst das ruhigste Schaf nervös. Aber es hilft alles nichts. Behutsam und beherzt greift er sich den Bock, ein kurzer Ringkampf und wenige Augenblicke später ist der Zwischenklauenspalt vom Dreck befreit. Kaum vorbei, taucht der Widerspenstige erst mal wieder in seiner Herde unter. Ist ein Tier ernsthaft verletzt und kommt Hagge mit Erster Hilfe nicht mehr weiter, arbeitet er mit Tierärzten und der Freien Universität zusammen. Das ist ein Job rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche: Weideflächen verändern, Zäune ausbessern und umsetzen, geduldig Fragen neugieriger Besucher beantworten. Interessenten und Abnehmer für seine Wolle gibt es auch, Hagges Schafe liefern natürliche Spitzenqualität. „Schafslogistik" nennt er das, wenn er von Anfang Mai bis Ende November seine insgesamt 500 Schafe betreut, mehrere Herden von unterschiedlicher Größe an verschiedenen Orten, verstreut über das ganze Berliner Stadtgebiet seit 2012. Bei Schnee und Eis kommen die Tiere in ihr Brandenburger Winterquartier. Seit drei Jahren ist er nun auch im Charlottenburger Schlosspark, denn schon früher seien Rinder- und Schafsherden in großen Parkanlagen gehalten worden. Man wundert sich, warum die Schäferei im Stadtgebiet so lange in Vergessenheit geriet, denn alle Beteiligten haben nur Vorteile davon. Björn Hagge wird für seine weidenden Schafe von der Parkverwaltung bezahlt. Seine Tiere haben Futter, er ein regelmäßiges Auskommen, und es profitiert erst recht die Stadt. Die Gras- und Flächenpflege ist kostengünstiger als der Einsatz von Maschinen und Personal, und behutsamer sind Schafe allemal. Die Lebenswelten von Kleinsttieren und Insekten werden geschont und nicht einfach wegrasiert. Im Einklang, nicht gegen die Natur geht es besser.
Und was ist mit den Einwänden der notorischen Bedenkenträger? Dumme Tiere, die vor feiner Barockkulisse nichts zu suchen haben? Spaziergänger, deren Bluthunde unschuldige Schäfchen reißen? Idioten, die Bierpullen über den Zaun werfen? Björn Hagge überlegt nicht lange. Er kennt hier eine ältere Dame, die lange alleine im Park ihre Runden drehte oder stumm auf einer Bank saß in sicherer Entfernung. Mit der Zeit aber kam sie mit anderen Menschen ins Gespräch. Sie unterhielten sich anfangs über die Schafe, jetzt über Gott und die Welt. „Wer Schafe beobachtet", sagt er, „wird ruhiger. Sie tragen zu unserer Entspannung bei." Und gerade weil seine Herde im wilden Teil des Schlossparks in der Öffentlichkeit steht, kommt niemand so schnell auf dumme Gedanken. Die Hunde bleiben an der Leine, und die wenigen Blödmänner halten sich zurück. Bis er in Rente geht, will Björn Hagge einen verlässlichen Nachfolger oder Nachfolgerin gefunden haben und mal wieder richtig verreisen. Mit Schafen will er weiter zu tun haben. Und wenn dann noch Zeit ist, trifft man ihn vielleicht im Charlottenburger Schlosspark wieder. Milde lächelnd auf einer Bank, die Herde beobachtend, mit Spaziergängern ins Gespräch vertieft.