Dank der Analyse von rund einer halben Million Zellen und Zellkernen gelang einer internationalen Forschergruppe erstmals ein spektakulärer Einblick in das menschliche Herz. Die Wissenschaft erhofft sich von dem Zellatlas wesentliche neue Erkenntnisse für die Herzgesundheit.
Wenn ein renommierter Wissenschaftler wie der Kardiologe Prof. Douglas Mann von der Washington University School of Medicine in St. Louis die jüngsten Arbeiten seiner Kollegen zur Erstellung eines „Human Heart Cell Atlas" als „monumental" einstuft, lässt sich eine erste Vorstellung davon gewinnen, welcher Forschungs-Coup dem Team gelungen. An dem Projekt beteiligten sich 33 Wissenschaftler von 19 Institutionen aus Deutschland, Großbritannien, den USA, Kanada, China und Japan.
Denn bislang ist noch wenig bekannt, welche molekularen Prozesse in den Zellen des menschlichen Herzens ablaufen, damit dieses seine lebensnotwendige Funktion zur Bewegung des Blutes im Kreislaufsystem und damit auch zur Versorgung des Organismus mit Sauerstoff und Nährstoffen sowie dem Abtransport von Kohlendioxid und Schadstoffen bewältigen kann. Tag für Tag schlägt das menschliche Herz zuverlässig rund 100.000 Mal, je nach Belastung mal schneller, mal langsamer. Was eine bislang weitgehend ungeklärte Koordination der Zellen in jedem Teil des Zentralorgans voraussetzt. So lange die Medizin nicht weiß, wie genau das beim gesunden Herzen abläuft, kann man schwerlich die nötigen Schritte einleiten, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die mit etwa 40 Prozent die häufigste Todesursache hierzulande sind, wirksam bekämpfen zu können. Der neue Zellatlas des Herzens versteht sich als erster wesentlicher Beitrag dazu, diese elementare Wissenslücke zu füllen. Die darin enthaltenen Erkenntnisse sind für die Wissenschaft so wichtig, dass sich das bedeutende Fachmagazin „Nature" dazu entschlossen hat, sie ausnahmsweise schon in Manuskript-Form Ende September 2020 zu publizieren und alle Daten für die weitere Forschung frei verfügbar zu machen.
Der „Human Heart Cell Atlas" ist Teil des 2016 gestarteten internationalen Forschungs-Großprojekts namens „Human Cell Atlas", in dessen Rahmen die weltweit auf ihren jeweiligen Fachgebieten bedeutendsten Experten so etwas wie eine „Google Map des menschlichen Körpers" erstellen sollen. „In vielen Lehrbüchern steht noch immer", so die Konzept-Erklärung des Großprojekts durch das Max-Delbrück-Centrum (MDC) für molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft, „dass der menschliche Körper aus 200 bis 300 Zelltypen besteht. Tatsächlich ist diese Zahl erheblich höher –
und viele sind bisher wenig oder gar nicht erforscht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die seit Ende 2016 am Human Cell Atlas arbeiten, wollen das ändern. Mithilfe neuartiger Technologien wie der Einzelzellsequenzierung kartieren sie die Vielfalt der Zellen. Sie dokumentieren, welche Gene gerade aktiv oder stillgelegt sind, welche Zellzustände es gibt und welcher Zelltyp wofür zuständig ist, wie die Zellen Gewebe formen und wie sie sich im Laufe eines Lebens wandeln können." Da für das Mega-Projekt erhebliche finanzielle Mittel benötigt werden, konnte eine Vielzahl von Sponsoren gewonnen werden. Für den Herzatlas stellte die Chan Zuckerberg Initiative, eine US-amerikanische philanthropische Organisation, allein knapp vier Millionen Dollar zur Verfügung. Auch das Deutsche Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung und die British Heart Foundation zählen mit rund 2,5 Millionen Euro zu den Hauptgeldgebern.
Von deutscher Seite spielte beim Herz-Zellatlas das Berliner MDC unter Federführung von Prof. Nobert Hübner, dem Leiter der Arbeitsgruppe Experimentelle Genomik von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die tragende Rolle. Prof. Hübner hatte das Projekt Human Heart Cell Atlas vor rund drei Jahren gemeinsam mit Dr. Sarah Teichmann vom Wellcome Sanger Institute im britischen Cambridge, mit Prof. Jonathan Seidmann und Prof. Christine Seidmann von der Harvard Medical School in Boston sowie mit Dr. Michela Noseda vom Imperial College London aus der Taufe gehoben. Grundlage für ihre Forschungen waren die Organe von sieben männlichen und sieben weiblichen Spendern, die zwar hirntot, aber herzgesund waren. Aus den unterschiedlichsten Gründen waren die Herzen der zwischen 40 und 75 Jahre alten und aus den USA oder Großbritannien stammenden Verstorbenen für Transplantationen nicht geeignet gewesen. Die Ergebnisse der Studie enthüllten eine enorme Vielfalt der Herzzellen und bislang unbekannte Subtypen von Herzmuskelzellen, stützenden Herzzellen, schützenden Immunzellen sowie ein weit verzweigtes Netzwerk von Blutgefäßzellen. Zudem konnten grundlegende Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie die Zellen kommunizieren, um das Herz in Gang zu halten. „Dies ist das erste Mal, dass sich irgendjemand in diesem Maßstab einzelne Zellen des menschlichen Herzens angeschaut hat", so Prof. Nobert Hübner.
Auch die Blutgefäße des Herzens wurden vom internationalen Forscherteam untersucht
In einem ersten Schritt hatten die Forscher anhand von aus sechs verschiedenen anatomischen Herzregionen entnommenen Zellen und Zellkernen, deren Gesamtzahl 486.134 betrug, überprüft, welche individuellen genetischen Merkmale feststellbar waren. „Damit haben wir zum ersten Mal eine Art Postleitzahl", so Prof. Christine Seidmann, „die uns für jede Zelle verrät, zu welcher Population sie gehört." In einem zweiten Schritt profilierten die Forscher das Transkriptom, den vom Erbgut abgelesenen und in Gestalt von RNA vorliegenden Anteil des genetischen Codes, um dadurch ermitteln zu können, welche in den Zellen jeweils angeschaltet, sprich aktiv waren. Mithilfe modernster Methoden wie der Einzelzellsequenzierung, mit der alle Messenger-RNA in einer Zelle analysiert werden kann, mit maschinellem Lernen und speziellen Bildgebungsverfahren konnten schließlich elf Haupttypen von Herzzellen identifiziert werden und dazu noch 62 Subtypen.
Auffällig war zudem laut MDC-Interpretation, dass sich die Zellen in den verschiedenen Herzregionen „stark voneinander unterscheiden. In jeder Region gab es ein spezifisches Set von Zellen, was Unterschiede in der Entwicklung unterstreicht und möglicherweise zu unterschiedlichen Reaktionen auf eine Behandlung führt." Daher gebe es eine beachtliche zelluläre Heterogenität selbst unter den bekanntesten Zelltypen des Herzens wie den Kardiomyozyten (Herzmuskelzellen), den Fibroblasten (Bindegewebszellen) oder den Perizyten (die ebenfalls zu den Bindegewebszellen gehören). „Es gibt beispielsweise nicht die eine Herzmuskelzelle", so das MDC, „sondern viele verschiedene Kardiomyozyten mit teilweise ganz unterschiedlichen Funktionen. Die Genexpressionsmuster legen nahe, dass manche von ihnen mit einer viel höheren Stoffwechselrate umgehen können als andere." Auch bei Fibroblasten konnten die Forscher sehr unterschiedliche Muster der Genexpression entdecken. „Wir haben verschiedene Fibroblasten-Subtypen gesehen. Manche produzieren die extrazelluläre Matrix über unterschiedliche Prozesse", so das MDC, „andere bauen das Gerüst um, wieder andere kommunizieren mit Immunzellen in ihrer direkten Nachbarschaft. Mit dem Zellatlas des menschlichen Herzens haben wir die Grundlage geschaffen, um fibrotische Prozesse wirklich zu verstehen. Warum verlaufen sie in den Vorhöfen und Kammern jeweils anders? Wie können wir sie kontrollieren?" Auch die Blutgefäße, die das Herz durchziehen, wurden vom internationalen Forscherteam in einer bislang noch nie zuvor in diesem Detailumfang durchgeführten Weise untersucht. Dabei zeigte sich, wie sich die Zellen in Venen und Arterien an die verschiedenen Drücke und Umgebungen angepasst haben. Das kann künftig erheblich hilfreich sein, um zu erkennen, was bei koronarer Herzkrankheit in den Blutgefäßen womöglich schiefzulaufen pflegt.
Verblüffend und völlig unerwartet war zudem die wissenschaftliche Beobachtung, dass die Herzen der Frauen in ihren Kammern mehr Muskel- und weniger Bindegewebszellen aufweisen als die Herzen der Männer – obwohl weibliche Herzen in der Regel kleiner sind als männliche. Dieses Resultat könnte laut den Wissenschaftlern erklären, warum Frauen seltener als Männer an Herz-Kreislauf-Leiden erkranken. „Das ist faszinierend", so das MDC, „aber das Ergebnis basiert nur auf sieben Herzen jeden Geschlechts. Wir müssen mal schauen, ob dieses Ergebnis weiteren Untersuchungen standhält." Auch der Atlas selbst kann noch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, denn selbst die halbe Million Proben können der Wissenschaft angesichts von zig Milliarden von Herzzellen nur einen ersten Einblick ermöglichen. Aber immerhin konnten die Forscher in ihrer Studie sogar einen Bezug zur aktuellen Corona-Pandemie herstellen: „Wir haben Herzzellen kartiert", so Dr. Michela Noseda, „die potenziell mit Sars-CoV-2 infiziert werden können. Dabei haben wir herausgefunden, dass spezialisierte Zellen der kleinen Blutgefäße ebenfalls Angriffsziele des Virus sind. Unsere Datensätze sind eine Goldgrube an Informationen, um die Feinheiten von Herzkrankheiten zu verstehen."