Auch ohne den bisherigen Kopf des Organisationskomitees sollen die Olympischen Spiele in diesem Jahr in Tokio stattfinden. Sogar andere Probleme lassen die Verantwortlichen (noch) nicht über eine Absage nachdenken.
Als Yoshiro Mori am 14. Juli 1937 das Licht der Welt erblickte, steuerte die „Große Säuberung" in der damaligen UdSSR unter Josef Stalin auf den Höhepunkt zu. Der Zeppelin „Hindenburg" war bei seiner Landung im amerikanischen Lakehurst gerade explodiert und hatte 33 Menschen in den Tod gerissen. Und der universell programmierbare Computer war noch nicht einmal erfunden. Vor 83 Jahren war die Welt eine völlig andere, und manche Sichtweisen von Yoshiro Mori lassen sich vielleicht auch damit erklären. Doch als Chef des Organisationskomitees der Olympischen Spiele in Tokio ist Mori aus der Zeit gefallen. Nachdem der frühere Premierminister in einer OK-Sitzung behauptet hatte, Frauen würden Meetings in die Länge ziehen, weil sie Schwierigkeiten hätten, „sich präzise auszudrücken", war der Aufschrei groß. Nach der sexistischen Aussage wurde der Druck auf den 83-Jährigen national und auch international immer größer. Es wurden Petitionen gestartet, prominente Japaner wie Tennis-Star Naomi Osaka oder der Musiker Ryuichi Sakamoto kritisierten Mori öffentlich, und mächtige Olympia-Sponsoren wie Toyota entzogen dem OK-Boss das Vertrauen. Mori war nicht mehr zu halten, ein halbes Jahr vor der geplanten Eröffnungsfeier trat er als OK-Präsident zurück. „Meine unangemessene Aussage hat viel Chaos verursacht", sagte er bei seiner Abschiedsrede am 12. Februar. Er habe „nicht auf Frauen herabschauen" wollen, verteidigte sich Mori, doch das spiele nun keine Rolle mehr. Denn der Schaden war längst angerichtet, die ohnehin unter einem denkbar schlechten Licht stehenden Sommerspiele in Tokio haben ein Problem mehr. „Wichtig ist, die Olympischen Spiele im Juli abzuhalten", sagte Mori, „es darf nicht sein, dass meine Präsenz dem im Wege steht."
Mächtige Olympia-Sponsoren entzogen Mori das Vertrauen
Das tut sie nun nicht mehr, doch schon der Wirbel um Moris Aussagen und seinen Rücktritt waren ein Rückschlag für die Olympia-Bewegung, die in Pandemie-Zeiten einen schweren Stand hat. Mori galt als großer Befürworter der Spiele, auch nach der coronabedingten Verschiebung von 2020 auf den Sommer 2021 (23. Juli bis 8. August). Davon gibt es in Japan nicht mehr viele, auch der neue Regierungschef Yoshihide Suga soll dem milliardenteuren Großevent anders als sein Vorgänger Shinzo Abe sachlich-nüchtern gegenüberstehen. Angesichts von Höchstwerten bei den Neuinfektionen, den riesigen Problemen im Gesundheitssystem und den von der Regierung verhängten Notständen für Großstädte sinkt auch die Zustimmung in der Bevölkerung auf Tiefststände, die nicht mal mehr das Internationale Olympische Komitee (IOC) noch schönreden kann. Eine landesweite Telefonumfrage der Nachrichtenagentur Kyodo hat im Januar ergeben, dass über 80 Prozent der Befragten für eine Absage (35,3 Prozent) oder erneute Verschiebung (44,8) der Spiele sind. Wobei Letzteres einer Absage gleichkommen würde, denn ein zweites Zeitfenster, einen Plan B – das gibt es für Tokio nicht. Schon jetzt ist der finanzielle Schaden enorm, bei einer Absage würde Japan jedoch endgültig auf einem Milliarden-Grab sitzen bleiben. Das Organisationskomitee und das IOC spielen daher auf Zeit. Sie hoffen, dass sich die Pandemie-Lage in den kommenden Wochen durch die verstärkte Impfung gegen das Virus beruhigt und die Akzeptanz in der Bevölkerung wieder steigt. Genau wie die Vorfreude auf die Spiele. Doch selbst der neu gewählte US-Präsident Joe Biden hat da so seine Zweifel. „Ich hoffe, dass sie stattfinden, ich hoffe, es ist möglich, aber wir müssen abwarten", sagte der 78-Jährige. „Die Entscheidung muss auf der Wissenschaft basieren."
Der Blick nach Afrika bereitet große Sorgen
Die Wissenschaft schlägt angesichts der Corona-Mutationen aber Alarm – und manche Politiker tun es auch. Dagmar Freitag (SPD) kann sich selbst Geisterspiele, bei denen immer noch Zehntausende Athleten, Betreuer, Offizielle und Journalisten aus allen Kontinenten zusammenkommen, „zum jetzigen Zeitpunkt ehrlich gesagt kaum vorstellen". Die Sportausschussvorsitzende des Deutschen Bundestags ergänzte: „Wir wissen, dass manche Kontinente fast noch gar nicht angefangen haben zu impfen." Gerade der Blick nach Afrika bereite ihr deswegen „ganz große Sorgen". Die Diskussionen, ob Sportlerinnen und Sportler nur geimpft in Tokio an den Start gehen dürfen, wird bis zur endgültigen Entscheidung über die Austragung anhalten. Unabhängig davon hat das IOC bereits strenge Regeln für die Athleten in der ersten Version des offiziellen „Playbook" erfasst. Kurz zusammengefasst: Die gängigen Hygienemaßnahmen, die die Menschen seit einem Jahr begleiten, kommen auch in Tokio zum Tragen. Das ganz spezielle Olympiaflair, die Kontakte und Begegnungen im Athletendorf, der Jubel von den Tribünen – auf all das müssen die Teilnehmer wohl verzichten. So ist bis auf wenige Ausnahmen nur der Aufenthalt in den Sportstätten und im Olympischen Dorf möglich, touristische Aktivitäten sind nicht erlaubt. Andere Sportler sollen nur beklatscht, nicht aber verbal angefeuert werden – Stichwort Aerosole. Getestet werden soll mindestens alle vier Tage. „Wenn Sie bereits bei den Spielen waren, wird diese Erfahrung in vielerlei Hinsicht anders sein", steht in dem „Playbook" geschrieben. „Wir vertrauen darauf, dass die festgelegten Maßnahmen die Risiken einer Teilnahme an den Spielen mindern." Der Start ist dennoch auf eigenes Risiko, bei einer Ansteckung oder gar schweren Krankheit durch Corona wären das OK oder das IOC nicht haftbar. Wer sich nicht an die Richtlinien hält, soll bestraft werden. Sogar der Entzug der Akkreditierung ist möglich.
Trotz der vielen Auflagen und der deutlich eingeschränkten Bewegungsfreiheit wollen die Athletinnen und Athleten nach Tokio. „Jeder Sportler möchte, dass Olympia stattfindet", sagte Stabhochspringer Torben Blech, „das ist das große Ziel." Doch viele sind nach den Erfahrungen aus dem Vorjahr vorsichtig geworden. „Natürlich ist Tokio das Ziel. Aber wir müssen schauen, ob die Lage im Juli das zulässt und alles stattfinden kann", meinte Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo. Deutschlands Sportlerin des Jahres wolle sich aktuell „lieber mit den Dingen beschäftigen, die ich beeinflussen kann". Corona habe gezeigt, „dass man sich nie sicher sein kann".
Ein Großteil der Sportler hat noch nicht mal das Tokio-Ticket in der Tasche, weil aufgrund der Pandemie zahlreiche Qualifikations-Wettbewerbe ausgefallen sind. Das IOC berichtete von knapp mehr als 60 Prozent fester Plätze, 14 Prozent erhalten über Ranglisten ihr Ticket. Der Rest muss sich noch qualifizieren. Für diese Athleten wird es ein Wettlauf mit der Zeit – und eine Nervenschlacht. Degenfechterin Alexandra Ndolo klagte im Gespräch mit dem SID über die „extreme Situation", die „an den Kräften zehrt". Ihr Traum von den ersten Olympischen Spielen hängt am seidenen Faden, weil gerade die stickigen Fecht-Hallen alles andere als coronafeindlich sind. Qualifikations-Wettbewerbe außerhalb Europas sind zurzeit ohnehin nur schwer denkbar.
„Ich möchte, dass sich die Öffentlichkeit sicher fühlt"
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) rechnet am Ende dennoch mit einem rund 400 Mann und Frau starken „Team Deutschland". Das wären nur knapp weniger als 2016 in Rio de Janeiro (418) und sogar mehr als 2012 in London (392). Dirk Schimmelpfennig als Chef de Mission und DOSB-Präsident Alfons Hörmann tauschen sich regelmäßig mit den Athleten, Trainern und Betreuern aus, erst kürzlich gab es eine große Videokonferenz zu den Folgen der Pandemie für die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Tokio und ein Jahr später in Peking (Winterspiele). „Das Fazit der aktuellen Stimmungslage im ‚Team D‘ und des Abends zusammengefasst: besser vorsichtige Spiele als keine", sagte Hörmann. Aber wie vorsichtig ist vorsichtig genug? „Meine Sorge wäre die allgemeine Sicherheit, weil sie das Land öffnen", sagte Japans Sport-Heldin Osaka (23). „Jeder fliegt aus verschiedenen Orten ein. Ich möchte einfach, dass sich die Öffentlichkeit sicher fühlt." Die dreimalige Grand-Slam-Siegerin ist zwiegespalten, denn natürlich möchte auch sie bei Olympia starten und dort möglichst die Goldmedaille für ihr Heimatland gewinnen. Osaka, die in Florida lebt und trainiert, soll eines der Gesichter der Sommerspiele in Tokio werden. Ihr würde auch eine zweiwöchige Quarantäne nichts ausmachen, „um die Olympischen Spiele zu spielen".
Das würden wohl die meisten Athletinnen und Athleten auf sich nehmen, genauso wie den Pikser durch eine Corona-Impfung. Selbst einen Yoshiro Mori als OK-Chef hätten wohl die meisten für ihren Olympia-Traum akzeptiert. IOC-Präsident Bach bedauerte Moris Rückzug, dieser habe einen „herausragenden Beitrag" dazu geleistet, „Tokio zur bestvorbereiteten Olympiastadt aller Zeiten" zu machen. Dieser Satz klang angesichts der Ereignisse und der Umfragewerte denkbar deplatziert.