Nicht erst seit der Corona-Krise wird der Wald als Universal-Heilmittel zelebriert. Man sagt ihm eine beruhigende und entspannende Wirkung nach. Daher werden Waldspaziergänge und Ähnliches unter anderem auch bei der Behandlung von hyperaktiven Kindern und depressiven Erwachsenen eingesetzt. Auch viele Schriftsteller und Musiker aus vergangenen Zeiten widmeten ihre Werke der Natur, darunter insbesondere Künstler der Romantik.
Doch es gibt eine Schattenseite: das Vergängliche, Verlorene und Kriminelle. Der Autor Michael Christie, studierter Psychologe, setzt sich in seinem Roman „Das Flüstern der Bäume" mit der dunklen Seite des Waldes auseinander. Im Fokus des Geschehens: die Naturführerin Jacinda, die nichts über ihre Familie weiß. Bis hierhin nichts Ungewöhnliches. Denn: Wer sucht nicht nach seinen Wurzeln? Doch Jacindas „Ahnengalerie" weist einige Abgründe auf, unter anderem zwei Brüder einer anderen Generation: beide auffällig, beide ohne Perspektive. Beiden gleichzeitig zu helfen, erweist sich als unmöglich: Einer wird gerettet und macht eine steile Karriere, der andere verliert den Boden unter den Füßen – und alle Versuche, ihm zu helfen, sind zum Scheitern verurteilt: Weil er keine Hilfe annehmen kann, als sie ihm endlich angeboten wird, wird er obdachlos. Sein Bruder kann den Verlust des anderen nie wirklich verkraften …
Der Schriftsteller weiß, wovon er spricht: Er arbeitete einige Zeit in der Obdachlosenhilfe. Im Jahr 2011 veröffentlichte er seinen Debütroman „The Beggar’s Garden". Daher verwundert es auch nicht, dass es sich bei diesem Buch um keine romantische, idealisierende Lobpreisung des Waldes handelt. Die meisten Figuren sind einfache oder normale Leute, die sich aus der Zivilisation zurückgezogen haben und eine enge Verbindung zur Natur haben. Jacinda beispielsweise lebt in einer Symbiose mit dem Wald, dabei aber bildungsfern und fast vollkommen isoliert. Christie kreiert eine Desillusionierung, die die Weltsicht der Romantiker aufsplittern lässt.