Die Aufräumarbeiten nach dem Tsunami sind abgeschlossen, aber das zerstörte Kernkraftwerk wird eine Jahrhundertaufgabe bleiben. Jakob Boventer besuchte im Januar 2020 die Gegend rund um Fukushima für die deutsche Stiftung Energie und Klimaschutz und dokumentierte den Besuch.
Herr Boventer, Sie haben 2020 unter anderem für die Stiftung Energie und Klimaschutz die Gegend rund um das Katastrophengebiet von Fukushima besucht. Welche Eindrücke haben Sie mitgenommen?
Wir wohnten in Sendai, 70 Kilometer nördlich von Fukushima. Mein erster Eindruck von der Gegend, der Präfektur (vergleichbar mit deutschem Landkreis, Anm. d. Red.) Fukushima war erstaunlich gut, gemessen an den Meldungen, die wir hier in Europa von Fukushima gehört haben. Was mir deutlich im Gedächtnis geblieben ist, sind die Anzeigen, die an der Straße regelmäßig die aktuellen Strahlungswerte wiedergeben. Die J6, eine Art Bundesstraße, führt genau durch das betroffene Gebiet von Norden nach Süden, dort stehen unter anderem jene Schilder. Die J6 darf man zwar befahren, aber an vielen Stellen nicht Richtung Küste verlassen. Näher darf man an das zerstörte Atomkraftwerk nicht heran. Entsprechend viele leerstehende Gebäude stehen entlang der Straße wie beispielsweise Supermärkte und Tankstellen.
Wie gehen die Arbeiten voran, welche konnten Sie beobachten?
Die japanische Regierung hatte Schutzzonen eingerichtet, in denen niemand mehr leben durfte. Diese Schutzzonen wurden nach und nach bis heute verkleinert. Außerhalb dieser Schutzzonen ist der Wiederaufbau abgeschlossen, dort sind heute keinerlei Schäden mehr zu sehen. Innerhalb der Schutzzonen laufen die Arbeiten natürlich noch. Dazu gehören auch verstärkte und teils gewaltige Tsunami-Schutzbauten. Zum Beispiel errichtete Sendai, eine Stadt, die sehr hart von dem damaligen Tsunami getroffen wurde, eine sieben Meter hohe Tsunami-Mauer entlang der gesamten Küste.
Das klingt sehr radikal. Wie schätzen Sie diese Maßnahmen ein?
Eine sehr konsequente und pragmatische Vorgehensweise. Das Atomkraftwerk wurde auch deshalb in diese Ereigniskette hineingezogen, weil die Notstromaggregate nicht angesprungen sind. Der Tsunamischutz war zwar gut, aber eben nicht gut genug. Deshalb gibt es nun Gebiete, die auch in Zukunft als unbewohnbar gelten: Pragmatisch wurden nur die Gegenden, von denen man glaubte, sie seien mit vertretbarem Aufwand wieder bewohnbar zu machen, wieder bewohnbar gemacht. Entsprechend reagieren auch viele Japaner. Darauf angesprochen, sagten mir einige, es habe sich bezogen auf die Kernschmelze im Grunde nicht so viel geändert. Ja, einige Gebiete sind verstrahlt und nicht mehr bewohnbar, aber das war es dann auch.
In der Diskussion ist bis heute noch der Fischfang in den Gewässern von Fukushima, welche Auswirkungen hatte der Reaktorunfall darauf?
Nach meinen Beobachtungen hatte der Unfall darauf überhaupt keine Auswirkungen. Man misst die Strahlenwerte, untersucht die Fische, aber es war bislang keine große wirtschaftliche Katastrophe für die Fischer in der Gegend, hieß es in Gesprächen.
Weil die Abwasser zum Kühlen der Anlage gesammelt werden und nicht ins Meer geleitet werden?
Ja, diese werden in Tanks gesammelt. Die Brennstäbe im Kraftwerk müssen weiterhin gekühlt werden. Es gibt aber eine Diskussion darüber, ob das radioaktive Kühlwasser ins Meer abgelassen werden soll und ob die Konsequenzen für das Ökosystem vertretbar sind. Wie der Effekt der Verdünnung von Radioaktivität wirkt, ist nicht wirklich klar.
Welchen Stellenwert hat denn die Katastrophe im Gedächtnis der Japaner heute?
Die Erinnerungskultur an den Tsunami ist eine völlig andere als erwartet. Für uns in Deutschland steht meistens die nukleare Katastrophe im Vordergrund, weil wir keinen so starken Bezug zu Erdbeben und Tsunamis haben. Als Tschernobyl explodierte, war dies eine gefährliche nukleare Katastrophe in unserer direkten Nähe, strahlendes Material wurde durch Brände in die Atmosphäre getragen und so weit transportiert. Doch in Japan war es eine dreifache Katastrophe: das sogenannte Tohoku-Erdbeben, ein Tsunami, der die Küste verwüstete, und die darauffolgende Kernschmelze in den Reaktoren des Kraftwerks Fukushima Daiichi. Daher kreist die Erinnerung mehr um das Erdbeben insgesamt. Man muss aber auch sehen: Japan hat ein anderes kulturelles Verhältnis zu Erdbeben, zu Naturkatastrophen. Überall gibt es Evakuierungspläne und -systeme, Hinweisschilder auf Gebäude, in die man sich flüchten kann und ähnliches. Katastrophen gehören zum Leben dazu, auch Tsunamis. Darauf, glaube ich, sind die Japaner vorbereitet, aber im Falle von Fukushima haben all die Anstrengungen im Vorfeld noch nicht gereicht. Kurz danach gab es auch Überlegungen, komplett aus der Atomkraft auszusteigen. Kraftwerke wurden abgeschaltet. Aber die Idee ist im Laufe der vergangenen Jahre wieder erodiert.
Würden Sie wieder hinfahren, wenn Sie die Gelegenheit bekommen?
Ja, das Land ist extrem vielseitig, komplex und kulturell sehr weit von unserer europäischen Denke entfernt. Alleine schon deswegen.